Player FM - Internet Radio Done Right
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ΕΠΙΧΟΡΗΓΟΎΜΕΝΟ
At the dawn of the social media era, Belle Gibson became a pioneering wellness influencer - telling the world how she beat cancer with an alternative diet. Her bestselling cookbook and online app provided her success, respect, and a connection to the cancer-battling influencer she admired the most. But a curious journalist with a sick wife began asking questions that even those closest to Belle began to wonder. Was the online star faking her cancer and fooling the world? Kaitlyn Dever stars in the Netflix hit series Apple Cider Vinegar . Inspired by true events, the dramatized story follows Belle’s journey from self-styled wellness thought leader to disgraced con artist. It also explores themes of hope and acceptance - and how far we’ll go to maintain it. In this episode of You Can't Make This Up, host Rebecca Lavoie interviews executive producer Samantha Strauss. SPOILER ALERT! If you haven't watched Apple Cider Vinegar yet, make sure to add it to your watch-list before listening on. Listen to more from Netflix Podcasts .…
SWR Kultur lesenswert - Literatur
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×Regen. Salzwasser. Wellen. Schon die ersten Bilder – oder sollte man sagen Elemente? – in Etel Adnans Band „Hochbranden“ ziehen einen hinein in das evokative Universum dieser Dichterin und Denkerin. Es sind sinnstiftende, da programmatische Bilder. Denn wie Wellen und das Meer kräuseln sich in diesem Band auch die Gedanken und Überlegungen in einer unendlichen Bewegung. Regen kehrt zum Klang seines Ursprungs zurück, wenn die Nacht sich ausbreitet; über dem Land ist die Nacht so lang wie die verlassenen Straßen einer Stadt ... oder der Weg zu fernen Galaxien. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Erkundungen über das Sein Tatsächlich ist „Hochbranden“ eine tiefgründige Erkundung von grundlegenden Fragen des Seins: Was ist Identität? Was ist Realität? Wo sind die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Selbst? Der Band ist zusammengesetzt aus einem längeren Prosa-Gedicht und einem dreiteiligen Zyklus mit dem Titel „Gespräche mit meiner Seele“. Was die Texte eint, ist die fragmentarische Form des philosophischen Aphorismus. Niemand weiß, woraus das Leben entspringt, aber es entspringt, wie die Realität aus einem Heidegger-Buch. Normalerweise sehe ich einen Teppich auf dem Boden, Stühle, wahrscheinlich einen Hund, ganz einfach. Und wahrscheinlich alles falsch. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Immer wieder versinnbildlicht Adnan mit solch unerwarteten Wendungen: Es gibt keine eindeutigen Antworten auf die großen existentiellen Fragen. Im Gegenteil: Fast lustvoll bricht die Autorin mit der Illusion, es gäbe so etwas wie ein letztes Wissen. Spirituelle Gelassenheit, kindliche Neugier Spirituelle Gelassenheit ist deshalb in diesen Texten ebenso zu vernehmen wie Adnans lebenslang ungetrübte, fast kindlich anmutende Neugier auf alles, das sie umgibt: vom Nebel im geliebten San Francisco bis zum Mond am fernen Horizont. Zugleich ist nichts darin reine Abstraktion: Etel Adnan war bereits 93 Jahre alt bei Erscheinen des Bandes. Alles, worüber sie schreibt, ist durchtränkt von den Erfahrungen ihres langen Lebens. Dazu zählt auch das Nachdenken über den Tod: Wir spüren nur zu gut dieses Hochbranden einer Angst in der Obskurität der Organe, diese Obskurität, diesen inzestuösen Schmerz. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Das Grenzenlose denken. Denken ohne Grenzen Adnan weiß um diesen Schmerz. Aber indem sie sich selbst in den endlosen Seins-Kreislauf von Vergehen und Werden einwebt, verweigert sie dem Tod die Macht über sich und ihr Denken. Dieses Denken ist grenzenlos – wie die Gezeiten. Überhaupt: Grenzen zu überwinden ist tief in die Poetik von Etel Adnan eingeschrieben. Berge steigen in uns auf, wie es die Sprache tut, machen aus der Analogie einen wesenhaften Teil des Denkens (somit des Daseins). Daher sind Berge Sprachen und Sprachen sind Berge. Wir sprechen beides. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Diese Grenzenlosigkeit erlaubt es Adnan auch, Poesie und politische Realitäten mühelos miteinander zu verbinden. So lässt sie mit nur wenigen Worten das Bild einer scheinbaren Idylle in die Versehrungen einer Welt münden, die von Krieg und Vertreibung heimgesucht ist. Züge zu nehmen, ist beruhigend: Ihr gleichmäßiger Rhythmus durchdringt die Landschaften, die sie durchqueren, während viele Flüchtlinge, die am Rande von Kriegen leben, diesen Rhythmus in ihren Adern tragen. Aber in einer Stadt anzukommen, ist eine andere Geschichte: Es bedeutet, Kriegsherren in die Arme zu laufen, die ganze Ortschaften niedergemäht haben. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Und doch: „Hochbranden“, von Klaudia Ruschkowski in ein glasklares Deutsch übertragen, spendet Trost: Denn auch Etel Adnans Liebe zu allem Seienden ist: grenzenlos. Wer sich mit ihr auf Reise begibt, ist gerüstet für eine ungekannte Zukunft.…
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1 Sprechende Fische und heimliche Herrscherinnen: Neue Bücher u.a. von Dmitrij Kapitelman, Elisabeth Bronfen und Franzobel 55:00
Das lesenswert Magazin mit Büchern von Dmitrij Kapitelman, Elisabeth Bronfen, Franzobel und Tine Høeg sowie ein Comic-Projekt zum 7. Oktober
Der 7. Oktober als Zäsur „Wie geht es Dir?" Es ist erstaunlich, was eine so kleine Frage alles zum Vorschein bringen kann. „Von Tag zu Tag verschieden“, antwortet die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt Mirjam Wenzel. Die Comicszene zeigt sie an ihrem Lieblingsplatz im Museum, auf der Terrasse. Ein Polizeiwagen steht vor dem Haus. So Mirjam Wenzel: „Wir haben massive Kontrollen von Seiten der Polizei – Taschenkontrollen, Körperkontrollen. Vor uns stehen Polizisten mit Maschinengewehren vor beiden unserer Häuser. Das ist sozusagen eine ganz andere Art des Arbeitens." Der 7. Oktober sei für alle im Haus eine Zäsur, erzählt Mirjam Wenzel im Comic. Ihre große Sorge: das Museum nicht als offenen Ort der Begegnung erhalten zu können. Auf 16 kleine Bilderkacheln, schwarz-weiß mit Bleistift gezeichnet, hat die Karlsruher Comic-Autorin Julia Kleinbeck ihr Gespräch mit der Museumsdirektorin verdichtet. Künstlerische Energie gegen die Verzweiflung Seit einem Jahr gehört sie zur Kurationsgruppe des Comic-Projekts „Wie geht es Dir?“. Nach dem brutalen Überfall der Hamas habe sie sich über die rasche Lagerbildung auch unter den eigenen Kolleg*innen pro Israel bzw. pro Palästina gewundert. Sie erzählt: „Oft war ich erstaunt, dass so schnelle Antworten und einfache Antworten gefunden sind auf was, was ich immens komplex gerade finde oder wo ich noch nicht die schnelle Antwort habe und eben zeichnend versuche, mit den Fragen umzugehen. Und ich das Gefühl hatte, man muss darauf achten, dass es eine Vielstimmigkeit bleibt. Dass verschiedene Antworten zugelassen werden, möglich sind und dass man die auch aussprechen darf in der Verschiedenheit." 60 ganz unterschiedliche Stimmen kommen daher in diesem Comic zu Wort: Menschen, die von ihrer Verbindung zu einem Ereignis erzählen, das zwar weit weg in Israel stattgefunden hat, das sie aber nun in Deutschland einholt – mit antisemitischer Hetze, mit rassistischen Übergriffen und antimuslimischen Protesten. Im Netz und auf der Straße. Diese aggressive Stimmung hat auch Nathalie Frank schockiert. Die Comic-Autorin kommt aus der Nähe von Paris, lebt aber schon seit 2011 in Berlin und ist eine der Initiator*innen des Projekts: „Mich hat die Situation nach dem 7. Oktober, den Anfang von Gaza-Krieg und die Stimmung hier sehr verunsichert. Deshalb habe ich schnell entschlossen: anstatt den ganzen Tag Nachrichten gucken und verzweifelt sitzen, ein brückenbauendes Projekt in die Welt setzen, erschien mich eine sinnvolle Nutzung von meiner verzweifelten Energie." Vielstimmigkeit als Gestaltungsprinzip Brücken bauen, zum Dialog einladen – die Idee hat sich in der gut vernetzten Comic-Szene schnell herumgesprochen. Es gab gleich viele Zusagen, erinnert sich Münchner Comic-Autorin Barbara Yelin, die zum Kernteam des Projekts gehört. Das Konzept habe überzeugt: journalistische Interviews zu führen und diese dann künstlerisch umzusetzen, also auf eine Seite zeichnerisch zu verdichten. Die eigene Meinung spiele bei diesem Projekt keine Rolle, betont Barbara Yelin. Es gehe ums Zuhören, ums Lernen, um Solidarität: „Ich sehe uns als Gesellschaft in der Verantwortung, dass wir gegen den ansteigenden Antisemitismus einstehen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. Dass wir gegen den ansteigenden Rassismus einstehen. Was wir mit unserem Projekt versuchen, ist wirklich, persönlich, individuell Empathie zu schaffen, hinzuhören. Diese Vielstimmigkeit, dieses Zuhören auf verschiedene Seiten ist wirklich eine Herzensbildung, eine Menschenbildung und ein Lernen und vor allem ein In-Kontakt-Bleiben." Vielstimmig und vielschichtig erweist sich dieses Comic-Projekt tatsächlich: es sind jüdische, yezidische, deutsch-türkische und deutsch-palästinensische Stimmen dabei, Jung und Alt, Professoren, Kulturwissenschaftlerinnen, Friedensaktivisten, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Musiker und andere mehr. Und trotz der extremen Verdichtung eines in der Regel mehrstündigen Interviews auf wenige Comic-Bilder sind es sehr komplexe Episoden geworden, die ein genaues Hinsehen und Hinhören erfordern. Das habe sie auch gefordert, meint Comic-Autorin Julia Kleinbeck: „Manche Leute erzählen ja vermeintlich aus dergleichen Perspektive, haben aber – es sind ja individuelle Geschichten – einen ganz anderen Blick oder andere Schwerpunktsetzung. Und dass das alles Platz haben kann. Stärkend auch der Blick, sich selbst als Zeichnerin noch einmal zu hinterfragen. Wir wurden ja auch begleitet im Bereich des Sensitiv Reading selber noch einmal zu gucken, wie erzähle ich eigentlich, was habe ich eigentlich für Bilder – das war eine sehr dichte Erfahrung." Bilder erzählen komplexe Lebensgeschichten Bekannte Namen sind darunter, aber auch Menschen, die lieber anonym bleiben wollen, um sich nicht zu gefährden. Benji zum Beispiel, 1997 in Berlin geboren, ein „jüdischer Berliner“, die Eltern sind als jüdische Kontingentflüchtlinge in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen. Dass Benji nicht erkannt werden will, hat tiefe Wurzeln, wie Comic-Autorin Nathalie Frank bei ihrem Interview erfahren hat: „Was mir vorher nicht klar war: er hat erzählt, dass seine Eltern ihm verboten haben als Kind zu erzählen, dass er jüdisch ist in der Schule in Berlin in den 90er Jahren. Das ist ein Teil der Realität des jüdischen Lebens, die mir nicht bewusst war. Und ich dachte, dann ist es wahrscheinlich vielen nicht bewusst und sie sollten das wissen, dass das die Realität ist." Dabei hat die Journalistin Nathalie Frank selbst jüdische Wurzeln: die Geschichte ihrer Großmutter, die als junges Mädchen nach Frankreich fliehen musste, ist ebenso in das Projekt eingeflossen wie das Empfinden der Autorin und Übersetzerin Rasha Khayat. Eine Frau mit internationalem Hintergrund: in Deutschland geboren, Kindheit in Saudi-Arabien verbracht, um dann wieder in die alte „Heimat“ zurückzukehren. So Khayat: „Das ist ganz ganz schwer auszuhalten für jemanden wie mich. Wenn man von außen immer wieder diese Message bekommt: wer man zu sein hat oder wer man nicht zu sein hat. Also das hat mich in so eine Art Identitätskrise gestürzt. Vielleicht war es auch naiv, dass ich immer dachte: Ach, komm, irgendwie gehöre ich doch zu Deutschland dazu. Aber auf einmal hatte ich wieder das Gefühl: wie als ich mit 11 Jahren nach Deutschland gekommen bin – ich gehöre hier nicht dazu. Ich werde immer das Andere sein." Wut und Trauer mischen sich in dieser Erkenntnis. Comic-Autorin Barbara Yelin zeichnet ihre Interviewpartnerin Rasha Khayat beim Schwimmen. Ein Ort, um Kraft und neue Gedanken zu fassen. „Wie geht es Dir?“ – eine kleine Frage nur, die bei diesem wertvollen, sehr gelungenen Projekt ganze Horizonte öffnet. Und bei aller Unterschiedlichkeit auch Verbindendes entdeckt: „Diese Frage, wie geht es Dir, war wirklich auch ne überraschend wichtige Einstiegsfrage. Weil wir damit ja auch nicht nur individuelle Sichtweisen bekommen, sondern was auch immer wieder klar wurde, waren Gemeinsamkeiten. In so vielen dieser Comics war gemeinsam: der Wunsch nach Frieden.…
Dieser Roman ist das Dokument einer neun Monate dauernden Tortur. Doch keine neun Monate, in denen im Körper der Ich-Erzählerin Mia ein Kind heranwächst, sondern neun Monate, in denen sie verzweifelt versucht, schwanger zu werden. Mia ist 35, lebt in Kopenhagen und ist eine bekannte Autorin und schillernde Persönlichkeit. Auf der Straße wird sie erkannt und auf ihre Romane angesprochen, die auch im Theater auf die Bühne kommen. Mia ist mit dem etwas älteren Emil zusammen und sie versuchen seit einem Jahr ein Kind zu bekommen – als das nicht klappt, unterzieht sich Mia einer Fertilitätsbehandlung mit anschließender künstlicher Befruchtung. Medizinische Prozeduren Der Roman hat die Form eines Tage- oder Notizbuchs, in dem Mia täglich die medizinisch komplizierten, schmerzhaften und immer wieder dramatisch enttäuschenden Prozeduren festhält, denen ihr Körper ausgesetzt ist. 2. Mai: Ich bin es die Hormone nehmen muss, zwei Tabletten oral in den ersten fünf Zyklustagen um meine Eizellen zur Reife zu bringen, vielleicht kann ich zwei oder sogar drei produzieren, wie eine Käfighenne der man Gift spritzt damit sie schneller wächst, ich bin es die zum Ultraschall muss, und wenn die Eibläschen groß genug sind bin ich es der man in den Bauch sticht um den Eisprung in Gang zu setzen, und sechsunddreißig Stunden später bin ich es die mit Emils Samen befruchtet wird, und ich bin es die sich anschließend morgens und abends Zäpfchen in die Scheide stecken muss um meine Schleimhaut so zu stärken dass sie das Ei festhält. Vielleicht wäre es ganz gut wenn du damit aufhörst die ganze Zeit daran zu denken sagte Emil neulich und ich hätte schreien oder lachen können. Wie sollte das möglich sein? Ich bin allein ich fühle einen Hunger von dem ich nicht weiß ob er je gestillt wird. Quelle: Tine Høeg – Hunger Dieser „Hunger“ nach einem Kind wird zur alles vereinnahmenden Obsession der Erzählerin Mia; ein Hunger, der alles andere verdrängt und ein Leben ohne Kind sinnlos erscheinen lässt. Literarische Sogwirkung Die Autorin Tine Høeg kreiert im für sie typischen notizhaften Stil von hingeworfenen Gedanken, schnell aufeinander folgenden Sätzen ohne Punkt und Komma das sprachliche Abbild eines inneren Sogs. Mit ihm wird man - rhythmisch, dicht und poetisch – hineingezogen in den alles beherrschenden Wunsch nach einer ersehnten Schwangerschaft. 3. Juni: Negativer Test 4. Juni: Ich will jetzt besser sein. Ich will fröhlicher sein, alles von der heiteren Seite betrachten. Meltdown gestern Abend. Lust zu sterben, ich will mich kneifen, mich blutig kratzen, ich will an einem dunklen Meer stehen und schreien. Eins werden mit meinem Schrei was ist los fragt Emil. Mia, was ist los? Ich glaube nicht, dass es klappt sage ich. Emil ist still. Dann sagt er verbissen: aber ich glaube es. Ich sehe ihn an und er weint Quelle: Tine Høeg – Hunger Der Roman „Hunger“ ist ein eindrucksvolles Protokoll davon, wie das gesellschaftliche Ideal einer eigenen biologischen Familie sich in sein dunkles Gegenteil verkehrt, sobald die Körper nicht entsprechend funktionieren. Denn obwohl es Emils Spermien sind, die zu großem Teil nicht zeugungsfähig sind, wird das Versagen einer ausbleibenden Schwangerschaft der Frau angelastet. In ihrem Körper wird der Kampf um ein Kind ausgetragen. Schwanger werden oder sterben Die vielen fehlgeschlagenen Versuche der künstlichen Befruchtung, die körperlichen Belastungen durch die Hormone, die wiederkehrenden Enttäuschungen der negativen Schwangerschaftstest – all das lässt die ungewollte Kinderlosigkeit für Mia zu einer allmählichen Nahtoderfahrung werden. „Ich will schwanger werden oder sterben“ ist ein wiederkehrender Satz aus „Hunger“, der ihr Erleben auf den Punkt bringt. Als ihre Emotionen immer extremer werden und für ihre Umwelt immer weniger nachvollziehbar, droht der Wunsch nach einem Kind auch die Beziehung zu zerstören: 24. November: Aber ich erlebe ja das alles weil ich mich so wahnsinnig danach sehne Mutter zu werden. Das ist das Brennglas durch das ich alles sehe, und ich empfinde tiefen Hass gegenüber allen bei denen dieses Bedürfnis gestillt ist. Ich denke an den Körper der Frau. Brutalität und Tod ob sie nun gebiert, abtreibt oder nicht schwanger werden kann, der Körper der Frau ist ein Ort der Gewalt. Du kultivierst deine schlechten Gefühle, sagt Emil. Gestern sagte er: manchmal habe ich das Gefühl ich bin nur Statist für deine Gefühle Quelle: Tine Høeg – Hunger Das einzige, an was Mia sich halten kann, ist ihr Schreiben, das schriftliche Festhalten ihrer Erlebnisse. 10. Juli: Meine Arbeit muss sein: diesen Text schreiben. Ich hatte das Schreiben als eine Fluchtmöglichkeit gesehen. Ich wollte eine andere Welt schaffen, aber ich muss hierbleiben. Mit meinem Blut schreiben. Kein Schluss, keine Erlösung, kein Plot nur endloser langwieriger Schrecken Quelle: Tine Høeg – Hunger Kinderlosigkeit als Strafe In diesem Raum des Schreibens entwickelt Tine Høeg auch ein gesellschaftliches kritisches Nachdenken über Fruchtbarkeit und den daran gebundenen Wert eines Frauenkörpers. Sie erkundet die bis heute einflussreiche Bedeutung von Schwangerschaft in der christlichen Tradition; in der Kinderlosigkeit die Strafe Gottes bedeutet was in der Entwicklung der Medizin wiederum dafür sorgte, dass Zeugungsunfähigkeit bei Männern bis heute wenig erforscht ist. Und sie beobachtet mit größer Härte gegen sich selbst, dass die ausbleibende Schwangerschaft in den weiblichen Selbsthass führen kann. 5. Juli: Ich habe Angst die Verbindung zu meinem Körper zu verlieren. Ich hasse ihn, sage ich zu Emil. Ich ertrage es nicht ihn länger anzusehen. Ich habe Lust ihn abzuschrauben und ihn den Ärzten zu geben und nur ein Kopf zu sein bis ich schwanger bin. Ich habe Lust darauf von mir selbst befreit zu werden. Von jetzt an will ich nicht mehr hoffen, das ist zu hart. Quelle: Tine Høeg – Hunger Ob Mia am Ende doch noch schwanger wird, lässt das Buch offen. Es endet nach neun Monaten Aufzeichnungen und entlässt ganz bewusst nicht in ein glückliches Ende. In jeder Zeile Schmerz „Hunger“ ist ein verstörend aufrichtiges und oft aufwühlendes Protokoll von der unbedingten Sehnsucht nach Mutterschaft. Tine Høeg hat ein eindrucksvolles autofiktionales Buch geschrieben, in dem aus jeder Zeile der Schmerz spricht. Darüber hinaus fragt es kritisch nach dem infrage gestellten Wert eines Frauenkörpers, wenn er nicht das leistet, was ihm kulturell und gesellschaftlich als Last auferlegt ist – nämlich: neues Leben in die Welt zu setzen.…
Ein wichtiger Schauplatz: Der „Magasin“, ein Laden für russische Spezialitäten in Leipzig. „Ich nehme mir in diesem Buch Freiheiten, die ich mir noch nie genommen habe", sagt der Autor und Journalist Dmitrij Kapitelman. Frische sprechende Fische im „Magasin“ In seinem Roman „Russische Spezialitäten“ finden sich allerlei surreale Momente: Menschen verwandeln sich in überdimensionierte Zigaretten, Fische und Maschinengewehre fangen an zu sprechen. Für Kapitelman sei das ein Weg gewesen, um „die Bizarrheit unserer Gegenwart einfangen zu können“. Um näher an die Realität rankommen zu können, habe er ins Fantastische ausweichen müssen. Parallelen zum Leben des Autors Die Realität, das ist der „Magasin“, der Laden für russische Spezialitäten in Leipzig, der den Eltern seiner Hauptfigur Dmitrij gehörte. Und diese Realität, das ist auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, das Geburtsland des Erzählers. Dass sein Held genauso heißt wie er, sei kein Zufall, sagt Dmitrij Kapitelman. Auch er ist in Kyjiw geboren und es gab auch den Laden seiner Eltern in Leipzig: Aber es ist mir wichtig, dass es ein Roman ist, der viel mehr Perspektiven zeigt als die, die persönlich kenne. Und es ist ein Roman über autoritäre Gewalt und über Wahrheitsfälschung. Quelle: Dmitrij Kapitelman Wem gehört die russische Sprache? Diese Wahrheitsfälschung flimmert im Roman tagtäglich ins Wohnzimmer von Dmitrijs Mutter: Sie schaut russisches Staatsfernsehen und glaubt der Propaganda über die Ukraine und den Krieg. Für Dmitrij ist das schwer auszuhalten. Seine Mutter und seine Muttersprache fühlen sich für ihn fremd an, gleichzeitig aber möchte er diese Entfremdung nicht zulassen: „Die Liebe zur russischen Sprache wie zur russischen Mutter ist ein zentrales Motiv in diesem Buch. Das ist emotional wichtig und es ist eine politische Emanzipation, denn diesem Regime im Kreml gehört diese Sprache nicht. Es hat sie vor ihnen gegeben und es wird sie nach ihnen geben", so Kapitelman. Das schwerste Buch über eine schwierige Zeit Dmitrij Kapitelman ist vergangenes Jahr selbst nach Kyjiw gereist. Die Erfahrungen von dort verarbeitet er im zweiten Teil seines Romans: Luftalarm, Fahrten in die befreiten Orte Butscha und Borodjanka, schwierige Gespräche mit Freunden über die Angst, ins Militär eingezogen zu werden. Es sei das schwerste Buch gewesen, denn er schreibe über die schwerste Zeit, sagt Kapitelman: „Die Ereignisse, mit denen ich darin ringe, sind so viel blutiger, als ich gedacht hätte, dass sie es je werden"…
Kleidertausch und Geistererscheinungen „in Serie“ In seinen Theaterstücken wimmelt es von Ermordeten, die nicht zur Ruhe kommen und als Geister auftauchen, wie in Hamlet oder Macbeth. Junge Frauen wiederrum ziehen Männerkleider an, um fliehen zu können, wie in „Der Kaufmann von Venedig“ oder um sich zu verstecken, wie in „Was ihr wollt“. Und auch Briefe, Schmuckstücke oder Geheimnisse werden weitergegebenen und getauscht. Diese Motive finden sich nicht nur in einzelnen von Shakespeares Stücken, sondern wiederholen sich, tauchen immer in Variationen auf. Quasi in „Serie“ – so nennt es die Zürcher Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Sie folgt diesen Verbindungslinien zwischen Shakespeares Dramen in ihrem neuen Buch „Shakespeare und seine seriellen Motive“.…
Tone Schunnesson gilt als die neue Stimme des „Schmutzigen Realismus“. „Reality, Reality“ erschien 2020 im Original und ist der zweite Roman der schwedischen Autorin. Er erzählt in rauer, ungeschminkter Sprache den Alltag der Protagonistin Bibbs. Bibbs ist Reality-Star in Stockholm – oder wohl eher Reality-Sternchen, denn der Erfolg ist nicht mehr auf ihrer Seite. Sie ist Ende 30 und bekommt nur noch wenige und schlecht bezahlte Aufträge. Seit Bibbs kaum noch gebucht wird, kommt ihr Freund Baby für die Miete der gemeinsamen Wohnung auf. Die Beziehung der beiden: toxisch. Mehrfach trennen sie sich, raufen sich wieder zusammen und stellen fest, dass sie ohneeinander nicht können. Der Umgang miteinander eskaliert häufig. Auch kommt es zu sexueller Gewalt, was vor der Lektüre des Romans erwähnt sein sollte. Sehnsucht nach dem „glücklichen Sommer“ Als Baby sich endgültig von Bibbs trennt, dreht sich ihr Leben nur noch darum, an Geld zu kommen. Sie will die Wohnung übernehmen, muss Baby aber 100.000 Kronen überweisen, um den Vertrag auf sie umzuschreiben. Und natürlich auch die monatliche Miete aufbringen. Geld, das Bibbs nicht hat. Das Ersparte, von dem sie etwas vorgaukelt, gibt es auch nicht. Sie gibt stattdessen lieber Geld für ein Medium, Rubbellose und Kältetherapien zum Abnehmen aus. Während ihrer Streifzüge durch Stockholm, sehnt sich Bibbs in einen Sommer zurück, in dem sie für viel Geld wenig arbeiten musste, große Werbe-Aufträge an Land zog und haufenweise Kleidung von PR-Firmen zugeschickt bekommen hatte. Verzweifelte Suche nach Geld überschattet Moral In diesem Sommer ist die Verzweiflung, wieder an Geld zu kommen, so groß, dass sie Bibbs in unmoralisches Handeln treibt. Sie lügt Freunde an, behauptet, sie habe Baby verlassen und nicht umgekehrt. Sie tritt eine Welle der Unwahrheiten los und geht sogar so weit, öffentlich zu verbreiten, dass Baby sie vergewaltigt habe – was nicht stimmt. Was sollte ich denn sagen: dass er mich verlassen hatte, obwohl er kein Recht dazu hatte? Oder dass ich so wahnsinnig brillant war und diese Brillanz sich abnutzte, weil Baby sie abnutzte? Quelle: Tone Schunnesson – Reality, Reality Obwohl Schunnesson die Geschichte aus Bibbs’ Perspektive erzählt und Einblick in ihre Gedanken gibt, fällt es schwer, sie als Person zu greifen und ihr Verhalten nachzuvollziehen. Sie denkt und handelt oft widersprüchlich. Auch ihre Einstellung Baby gegenüber ändert sich permanent. Diese Gefühlsschwankungen können beim Lesen durchaus Anstrengung abverlangen. Nach Schönheit und Aufmerksamkeit strebende Protagonistin Schunnesson ist es gelungen, eine äußerst unsympathische Protagonistin zu erschaffen, die selten ehrlich ist. Ihr Leben dreht sich um Schönheit, Sex und Oberflächliches. Dass an der Ich-Erzählerin wenig Echtes zu finden ist, erzeugt insgesamt eine bedrückende Stimmung. Und trotzdem ist es genau diese unangenehme Figur, die uns mit ihrem unmoralischen Handeln fesselt und durch den Roman trägt. Kleine Lügen, dem Anschein nach unbedeutend, doch zusammengenommen legen sie sich zwischen den, der sie ausgesprochen hat, und die Welt. Man hat seine Ruhe, aber zu dem Preis, dass die Welt sich entfernt. Quelle: Tone Schunnesson – Reality, Reality Ganz selten lässt diese berechnende Protagonistin Momente der Einsamkeit und Verletzlichkeit hindurchschimmern. Die Frage, ob Bibbs im Laufe der Geschichte lernt, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und zu einem ehrlicheren Menschen wird, hält die Spannung bis zuletzt aufrecht. Die Handlung des Romans mag zunächst platt klingen – größtenteils ist sie das auch, von der Autorin aber sicherlich gewollt. Manche Szenen und Formulierungen sind zudem vulgärer als sie sein müssten. Doch die Autorin lässt uns mit Spannung, Komik und Empörung am Alltag ihrer erfolglosen Protagonistin teilhaben. In ihrem Roman „Reality, Reality“ kreiert Tone Schunnesson eine eigene Realität voller Erfolgswahn, Oberflächlichkeit und Lügenkonstrukten und trifft so den Nerv der Zeit.…
Walter Kempowski hat vom „gurgelnden Chaos“ des Jahres 1945 gesprochen. Deutschland wird zum heftig umkämpften Kriegsschauplatz, auf den Straßen die Kolonnen der geschlagenen Soldaten, der Flüchtenden und der Displaced Persons. Während der Westen des Landes schon besetzt und in der Nachkriegszeit angekommen ist, wütet die SS andernorts noch gegen alle Regimegegner und Kapitulationswilligen. Auf den Todesmärschen sterben zahlreiche KZ-Häftlinge. Im Ort Gardelegen werden am 13. April noch Tausend dieser gestrandeten Elendsgestalten in eine Scheue gesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt: Volkssturmführer Debrodt diskutiert das Vorhaben mit anderen Verantwortlichen: ‚Alle waren der Meinung, dass es nicht gut, aber notwendig sei.‘ Quelle: Volker Heise – 1945 Vollendeter Irrsinn des Dritten Reichs – nur einen Tag später treffen die Amerikaner ein. Der Horror von Gardelegen ist eine der vielen erschütternden Szenen in Volker Heises Chronik des Jahres 1945. Konträre Erfahrungen Wie in Kempowskis Geschichtsmonument „Echolot“ geht es Heise darum, durch eine kontrapunktische Komposition aus Zeitzeugenberichten die konträren Erfahrungen der Menschen zu vermitteln. Anders als Kempowski reichert er die vielfältigen O-Töne aber mit kommentierenden Passagen an, die allerdings immer dicht an die Erlebnisperspektive der Zeitzeugen gebunden bleiben. Großen Teilen der deutschen Bevölkerung liegt eine regimekritische Haltung bis zuletzt fern. Dann aber kippt die Stimmung. Viele überschlagen sich vor Eifer, den neuen Herren gefällig zu sein, da kann Goebbels noch so martialisch den Untergrundkampf des „Werwolfs“ beschwören. Ein hoher Mitarbeiter des Auswärtigen Amts notiert: Der deutsche Nationalcharakter eignet sich nicht für den Partisanenkrieg. Quelle: Volker Heise – 1945 So zerfiel das Dritte Reich wie ein Spuk. Erich Kästner , der sich selbst glücklich durch den Untergang laviert hat, stellt fest: Die Unschuld grassiert wie die Pest. Sogar Hermann Göring hat sich angesteckt. Quelle: Volker Heise – 1945 Und selbst der SS-Führer Heinrich Himmler geht am 6. Mai noch davon aus, dass er dank seiner organisatorischen Talente „eine wichtige Rolle in der Nachkriegsordnung einnehmen kann“. Der Alltag läuft weiter Reizvoll ist diese Jahreschronik, weil sie den Alltag über den Einschnitt des Kriegsendes weiterlaufen lässt. Ganz profan spiegelt sich das im Tagebuch einer Sekretärin, die vorher und nachher gleichermaßen Kino und Amüsement im Sinn hat – man könnte es als vitalen Trotz einer jungen Frau gegen die Verheerungen bezeichnen. Die deutschen Frauen werden 1945 zu Hunderttausenden Opfer der Massenvergewaltigungen durch die Rotarmisten. Für viele beginnt ein paar Monate später die zweite Tortur, wenn es darum geht, die Genehmigung und einen Arzt für die Abtreibung zu bekommen. Der Berliner Sommer 1945 riecht nach Schutt und Verwesung. Täglich ziehen die hoffnungslosen Trecks der Vertriebenen aus den Gebieten jenseits der Oder durch die Stadt. In Hitlers Neuer Reichskanzlei, vergleichsweise unbeschädigt, blüht die Prostitution im Tausch gegen Zigaretten. Erster KZ-Prozess Im September beginnt der erste KZ-Prozess in Lüneburg. Im Licht der Pressefotografen steht die junge KZ-Aufseherin Irma Grese, berüchtigt als „Hyäne von Ausschwitz“ und „Bestie von Belsen“. Die Verbrechen selbst aber werden schon zur Verhandlungsroutine. Der Korrespondent William Shirer schreibt: All jene scheußlichen Grausamkeiten, denen gegenüber wir schon verhärtet scheinen, werden einzeln beschrieben und aufgezählt. Die Angeklagten langweilen sich, desgleichen alle anderen im Saal. Quelle: Volker Heise – 1945 Angenehm ist der nüchterne Ton des Buches, das weder von oben herab doziert noch – im Florian-Illies-Stil – die Einfühlung forciert, sondern ganz auf die starken Zeitzeugen-Zitate vertraut. Volker Heise ist ein fesselndes, aspektereiches Geschichtspanorama über jenes Jahr gelungen, über das man gar nicht genug wissen kann. Denn 1945 ist das Fundament der Bundesrepublik.…
Ein Schiff, das von New Orleans nach San Francisco wollte, musste den südlichsten Zipfel Lateinamerikas umrunden. Das dauerte und war teuer. So hatte bereits der Erbauer des Suez-Kanals, der Franzose Ferdinand de Lesseps, 1881 begonnen, einen Kanal quer durch die damalige kolumbianische Provinz Panama zu treiben. Das ging schief – wobei ein Grund dafür Krankheiten wie Gelbfieber und Malaria waren. Kurz darauf marschierten die USA ins mittelamerikanische Panama ein, sorgten für dessen Unabhängigkeit von Kolumbien und nahmen den Kanalbau wieder auf. Hier setzt der Roman „Der große Riss“ der US-Amerikanerin Cristina Henríquez ein: GESUCHT! VON DER ISTHMISCHEN KANALKOMMISSION. 4000 tüchtige Arbeitskräfte für Panama. 2-Jahres-Vertrag. Kostenlose Fahrt in die Kanalzone und zurück. Kostenlose Unterkunft und medizinische Versorgung. Arbeit im Paradies! Quelle: Cristina Henríquez – Der große Riss Der Panamakanal als Lebenschance Diesem Aufruf folgt die sechzehnjährige Ada von der armen Karibikinsel Barbados. Ihre Mutter hat kein Geld für die Lungenpunktion von Adas älterer Schwester und das Mädchen hofft auf den guten Lohn in Panama, um den Eingriff zu bezahlen. Sie findet einen Job im Haus des Forschers John Oswald, der in die Kanalzone gekommen war, um die Malaria auszurotten. Ada wird für die Betreuung von Oswalds lungenkranker Frau Marian eingestellt. Für den jungen Panamaer Omar bietet die Arbeit auf der Kanalbaustelle die Chance, sich von seinem Vater zu lösen, der will, dass Omar Fischer wie er wird. Die Autorin folgt Adas und Omars Familie sowie den Oswalds, um zu zeigen, warum Tausende damals auf den Kanalbau setzten und welche Opfer er ihnen abverlangte. Marian Oswalds französischer Arzt Pierre beschreibt, womit er sich täglich rumschlägt: Männer, die von den schwingenden Armen der Dampfbagger erschlagen wurden; Männer, deren Beine von vorbeirasenden Zügen abgetrennt wurden; Männer, die von Stromkabeln verbrannt wurden; Männer, die von Klippen gestürzt waren; Männer, die von Kränen gestürzt waren. Einmal war ein Mann auf die Station gekommen, dessen Knöchel auf die Größe einer Kokosnuss angeschwollen war, und hatte behauptet, dass eine dreizehn Fuß lange Schlange ihren Kiefer um ihn gelegt habe, als er durch das Dickicht gestapft sei. Quelle: Cristina Henríquez – Der große Riss Hitze und Malaria Die Autorin hat gut recherchiert, sodass sich die Leserschaft ein Bild davon machen kann, wie es damals zuging auf der Baustelle des 82 Kilometer langen Kanals. Sie beschreibt den keineswegs paradiesischen Umgang mit den Arbeitern seitens der US-amerikanischen Chefs und sie erzählt authentisch von Panama, von der Hitze, von den Lebensumständen, von der Malaria. Wenn sie in die Familiengeschichten eintaucht, drängen sich die Romane der Chilenin Isabel Allende auf. Wie sie, setzt auch Henríquez auf starke Heldinnen wie Ada oder ihre Mutter. Den Familiengeschichten fehlt allerdings das Blumige, Detailverliebte, das Allendes Erzählstil ausmacht. Wenn die Autorin von Omars Vater Francisco und seiner verstorbenen Mutter Esme erzählt, versucht sich Henríquez auch am Übersinnlichen, das Allende bestens beherrscht, kommt jedoch eher unbeholfen daher: Sie hielt ihre dunklen Augen auf ihn geheftet, und er fühlte sich seltsam gebannt. Es lag eine Art Zauber in der Tiefe dieser Augen. Ihre Freundin kicherte. Da bemerkte Francisco, dass er seine Hand noch immer in der Luft hatte. Er versuchte vergeblich, sie zu senken. Seine Hand wollte sich einfach nicht bewegen. Es war, als hätte sie sich in Stein verwandelt. Quelle: Cristina Henríquez – Der große Riss „Der große Riss“ liest sich flüssig, auch wenn ihm das Süffige fehlt, das Isabel Allendes Romane über Ereignisse aus der lateinamerikanischen Geschichte ausmacht. Wer an tragische Familiengeschichten vor historischem Hintergrund keine allzu großen Ansprüche stellt, wird „Der große Riss“ von Cristina Henríquez dennoch mögen.…
Als 1861 der Amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, handelte es sich nicht nur um eine Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern der Sklaverei und ihren Gegnern. Auf dem Spiel stand auch, in welche Richtung sich die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln würde. Viele Bürger im Norden betrachteten die wohlhabenden Plantagenbesitzer im Süden mit Argwohn. Ihre Erscheinung erinnerte sie an die Aristokraten in Europa. Bei dem politischen Kampf gegen die Sklaverei ging es daher nicht allein um das Schicksal der Betroffenen, sondern vor allem darum, dass deren Existenz auch eine Bedrohung für die Demokratie darstellte. Das Versprechen der Gleichheit In ihrem 1991 erschienenen Essay über die historischen Grundlagen der amerikanischen Staatsbürgerschaft hat Judith Shklar diese mit der Sklaverei verbundene Beunruhigung in den Mittelpunkt ihrer politischen Überlegungen gestellt. Nun liegt ihr Essay erstmals in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel „Wählen und Verdienen“ vor. An politischen Wahlen teilnehmen zu dürfen und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen zu können, sind nach Shklar die beiden Aspekte amerikanischer Staatsbürgerschaft, die im American Dream zu einem einzigartigen Versprechen verschmolzen sind. Beides wurde den Sklaven vorenthalten, warum ihr Schicksal eine Warnung bedeuten konnte, aber zugleich auch Abneigung erzeugte, wie die Politologin ausführt: Wie wir wissen, rief der Bürgerkrieg vor allem unter den städtischen Arbeitern des Nordens keine Begeisterungsstürme hervor, und Rassismus war unter ihnen weit verbreitet. Wenn Sklaverei als eine Bedrohung und Anomalie in einer demokratischen Gesellschaft gefürchtet war, dann war der Sklave in Wirklichkeit noch sehr viel mehr verachtet und gehasst. Die Ideologie der freien Arbeit fürchtete die Sklaverei, aber hasste den Sklaven. Quelle: Judith N. Shklar – Wählen und Verdienen Der Kampf um das Wahlrecht In der amerikanischen Gesellschaft stellte die Sklaverei einen schwerwiegenden Widerspruch dar. Inmitten der Neuen Welt, die allen Bewohnern die gleichen Bürgerrechte zusicherte, lebten Menschen, die aller Rechte beraubt waren. Dass das überhaupt möglich war, trieb vor allem diejenigen um, die ebenfalls nicht in den vollen Genuss der Bürgerrechte kamen. Weder Arbeiter noch Frauen durften wählen. Auch wenn ihnen niemals drohte, versklavt zu werden, verglichen sie ihre politische Stellung dennoch mit der Existenz der Sklaven. So war es ausgerechnet die Sklaverei, die den Kampf um das allgemeine Wahlrecht in Gang setzte, wie Shklar erläutert: Was der Staatsbürgerschaft als Stellung ihre historische Bedeutung verlieh, ist nicht die Tatsache, dass sie für so lange Zeit so vielen verweigert wurde, sondern, dass diese Exklusion in einer Republik geschah, die nach außen hin der politischen Gleichheit verpflichtet war und deren Bürger glaubten, dass sie einer freien und gerechten Gesellschaft angehörten. Quelle: Judith N. Shklar – Wählen und Verdienen Das Recht auf Arbeit Der hohe Wert, der in Amerika bereits im 19. Jahrhundert über alle Schichten hinweg dem Wahlrecht und der Arbeit beigemessen wurde, hat für Shklar in der Sklaverei seinen historischen Ausgangspunkt. Obwohl sich das Mitgefühl mit den Sklaven aufgrund eines weit verbreiteten Rassismus in Grenzen hielt, bildeten sie dennoch den Gegenpol zur Vorstellung eines freien Amerikaners, der sich selbst erhält und selbst bestimmt. Die Folgen dieser Entwicklung sind bis heute spürbar. So hat sich in den USA nie ein Sozialstaat herausgebildet. Alle politischen Institutionen sind dem Ziel der Vollbeschäftigung verpflichtet. Der self-made man, und heute auch die Frau, ist das Ideal der amerikanischen Gesellschaft. Judith Shklar, die bis zu ihrem Tod eine führende Vertreterin des Liberalismus war, hat mit diesem Essay ihrer politischen Haltung ein Denkmal gesetzt.…
Jeden Donnerstag macht sich der alte Nicasio auf Weg zum Friedhof. Ob es regnet, oder schneit, ob ihn der Ischias zwickt, oder die Lunge Probleme macht – der alte Herr lässt sich nicht abhalten, denn er will den kleinen Nuco besuchen, seinen Enkel, der hier in einer der Grabnischen liegt. Wie üblich haucht er auf das Glas, wischt mit seinem Taschentuch darüber, beugt sich näher heran und sagt: Ich hole dich hier raus, Nuco. Ich weiß zwar noch nicht, wann, aber ich hole dich hier raus. Nur Geduld. Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Eine traumatisierte Gemeinde Am 23. Oktober 1980 ist Nicasios Enkel Nuco gestorben. Seine Schule im kleinen Dorf Ortuella im Baskenland explodierte aufgrund einer defekten Gasleitung. Fünfzig Kinder und drei Erwachsene verloren ihr Leben, die Explosion war noch in sechs Kilometern Entfernung zu hören. Das Unglück traumatisierte die kleine Gemeinde, die furchtbaren Bilder prägten sich ins kollektive Gedächtnis ein. Zwischen den Trümmern sah man geborstene Schreibpulte und verbogene Stühle. Überall lagen die Körper fünf und sechsjähriger Kinder auf der Straße, blutüberströmt, zerfetzt, die Kleidung zerrissen. Einige waren durch die Luft geflogen und verrenkt und entstellt auf einer Seite des Schulhofs gelandet. Und wo bis kurz vor Mittag noch die Klassenräume der Kleinsten gewesen waren, gähnten jetzt drei gewaltige Löcher (…) Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Diese reale Katastrophe bildet die Grundlage für Fernando Aramburus neuen Roman Der Junge . Die Geschichte konzentriert sich auf die Familie des bei dem Unglück gestorbenen kleinen Nuco. Aramburu erzählt das gemeinsame Trauma des kleinen Ortes anhand der Familie des toten Nucos – Großvater Nicasio, Mutter Mariaje und Vater José Miguel. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Mariaje und eines Erzählers geschildert. Zudem gibt es eine dritte, distanziertere Ebene: Der Roman, und durch ihn der Autor selbst, meldet sich zu Wort und reflektiert den eigenen Schreibprozess. Er sei, lässt der Text seine Leserinnen und Leser wissen, nur eine „Summe von Wörtern, die so angeordnet sind, dass sie eine Bedeutung erlangen“. Da sich das Unglück von Ortuella wirklich ereignet hat, es sich also nicht um fiktives Leid handelt, ist sich der Text seiner Verantwortung bewusst. Er kann, wenn der Autor nicht sorgfältig genug vorgeht, ins Melodramatische abrutschen. Oder schlimmer noch: er müsse sich vorwerfen lassen, eine „gute Geschichte“ auf Kosten des Leids der Hinterbliebenen zu erzählen. Trotzdem bedrängt mich die Sorge, gegen meinen Willen zu kunstvoll, zu literarisch zu werden und am Ende ein Büchlein hervorzubringen, das wie ein Roman daherkommt und Gefahr laufen könnte, mögliche Leser zu Beifall oder sogar Lob zu bewegen, und dies auf Kosten einer Tragödie, die für viele Familien ein furchtbarer Schicksalsschlag gewesen ist. Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Taktvolle Sprache für das Leid Doch die Sorge des Textes, die Sorge Aramburus, ist unbegründet – denn das Buch trifft immer den richtigen Ton. Das gelingt auch, weil sich Aramburu als Erzähler zurücknimmt. Er verzichtet auf Metaphern und andere sprachliche Stilmittel, baut nicht künstlich Spannung auf durch Cliffhanger oder überraschende Wendungen. Stattdessen erkundet Aramburu die inneren Dramen und das Leid seiner Charaktere auf taktvolle Weise und gibt ihnen so angemessenen Raum. José Miguel will sich nicht von der Traurigkeit besiegen lassen und überredet Mariaje dazu, mit ihm ein weiteres Kind zu zeugen. Doch Mariaje verliert nach und nach alle Zuneigung zu ihrem Mann. Die stärkste Figur ist der alte Nicasio, der sich trotzig weigert, den Tod seines Enkels zu akzeptieren. Der Schmerz des alten Mannes ist in vielen Szenen greifbar. Als Mariaje das Kinderzimmer ausräumen will, baut der Großvater kurzerhand alles in seiner eigenen Wohnung wieder auf. Nicasio wollte in seiner Wohnung nicht nur Nucos Möbel wieder originalgetreu aufstellen, sondern desgleichen mit dem Inhalt der Schubladen verfahren, mit den Bildern an den Wänden, den Figürchen, Büchern, der herumliegenden Spielsachen. Zu diesem Zweck verbrachte er, da er keinen Fotoapparat besaß, einen ganzen Nachmittag in der Wohnung seiner Tochter, machte allerhand Notizen und zeichnete unzählige Pläne. Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Ein abruptes Ende Es gibt wohl keine perfekten Worte für den Verlust eines Kindes, aber dieses Buch kommt ganz nah heran. Aramburu gelingt es, das unermessliche Leid mit Respekt und Feingefühl zu schildern, ohne ins Sentimentale abzudriften. Einzig das abrupte Ende der Geschichte überzeugt nicht. Die Handlung franst aus, verliert sich in privaten Details von Mariaje, insgesamt wirkt das Büchlein schlicht zu schmal, die Geschichte nur halb fertig erzählt – warum Aramburu „Der Junge“ so kurz gehalten hat, bleibt sein Geheimnis. Frühere Werke, wie der Bestseller „Patria“ oder auch „Die Mauersegler“ waren epochale, dicke Bücher. Dennoch bleibt „Der Junge“ ein intensives und tief berührendes Leseerlebnis. Und trotz seiner Kürze entfaltet der Roman eine große emotionale Wucht – nicht zuletzt durch Aramburus präzise, schnörkellose Sprache, die den Schmerz umso eindringlicher macht.…
Rainer Maria Rilke gilt als der meistgelesene deutschsprachige Dichter. Selbst denen, die mit Lyrik sonst nicht allzu viel am Hut haben, sind schon Zeilen oder Verse von ihm begegnet - mindestens das Gedicht „Der Panther", das zu seinen bekanntesten Texten zählt. Zwei neue Rilke-Biografien Am 4. Dezember 2025 wäre Rainer Maria Rilke 150 Jahre alt geworden. Zwei neue Biografien widmen sich dem charismatischen Lyriker: Silke Arning hat beide Bücher gelesen und erzählt im Gespräch, was die beiden Autoren Neues herausgefunden haben. Sandra Richters „Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben“ Sandra Richter, Leiterin des Literaturarchivs in Marbach, schreibt über „Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben“. In Sandra Richters Biografie über den „Menschenfänger" Rainer Maria Rilke erfahren die Lesenden auch viel über Clara Rilke-Westhoff, Bildhauerin, Malerin und Ehefrau des Dichters, und darüber, wie sie ihn und sein Schaffen beeinflusste, weiß Silke Arning. Der Literaturkritiker Manfred Koch über „Rilke. Dichter der Angst“ Manfred Koch hat seiner umfangreichen Studie den Titel „Rilke. Dichter der Angst“ gegeben. Sein Buch beginnt mit Rilkes erstem Aufenthalt in Paris 1902. Im Folgenden dreht es sich um Rilkes Produktivität, die der Lyriker aus der Angst schöpfte. Ein Produkt seiner „Angstdichtung": das Gedicht „Der Panther".…
Im Hintergrund die Berge, im Vordergrund die Bücher. Bücherberge, sozusagen. Die Berge: schneebedeckt. Die Bücher: ein Stapel, als weißer Schatten. So sieht das Umschlagbild für Monika Helfers schmuckes Büchlein „Der Bücherfreund“ aus. Wenn man es aufschlägt, riecht es nach Druckerschwärze und nach Farbe. Das liegt an den Illustrationen von Kat Menschik, die auch das Titelbild gestaltet hat. Viele Tiere sind da zu sehen. Ein Rehbock, ein Schimpanse, übergroße Insekten. Und Bücher, gestapelt oder aufgeblättert, so dass sie zu fliegen scheinen wie Schmetterlinge, Bücher auf einer Bergwiese und Bücher im Bücherregal. All das sind Motive aus Monika Helfers Geschichte. Es ist die Geschichte ihres Vaters und die Geschichte ihrer eigenen Kindheit auf der Tschengla, einem Alpen-Hochplateau in Vorarlberg. Mein Vati war der Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern saß. Das heißt, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn die konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie. Quelle: Monika Helfer – Der Bücherfreund Kurzversion als Legende Die Geschichte ihres Vaters hat Monika Helfer vor ein paar Jahren schon einmal in dem Roman „Vati“ erzählt. Jetzt liefert sie die Kurzversion als Legende, kondensiert aufs Wesentliche. Das Wesentliche aber sind die Bücher. Der Vater, kriegsversehrt, weil ihm als Soldat Hitlers in Russland ein Bein erfror und amputiert werden musste, verliebte sich im Lazarett in die Krankenschwester. Die beiden heirateten und leiteten nach dem Krieg ein „Kriegsopfererholungsheim“ hoch oben auf der Tschengla. Dort wurden Monika Helfer, ihre Schwester und ihr Bruder geboren. Ein Heidelberger Professor, dessen kriegsbeschädigter Sohn dort dauerhaft unterkam, spendete seine Büchersammlung, die der Vater sorgsam hütete. Zur 2998 Bände umfassenden Bibliothek hatte außer ihm selbst nur die Tochter Monika Zutritt. Er zeigte mir, wie man ein Buch richtig aufschlägt, damit der Buchrücken nicht schief und die Fadenheftung nicht versehrt wird. Man nimmt ein Buch aus dem Regal, streicht mit den Fingern beider Hände darüber, dann öffnet man es leicht, steckt die Nase hinein und riecht, und dann erst blättert man und sucht eine Stelle, die man lesen möchte. Quelle: Monika Helfer – Der Bücherfreund Unerfüllter Wunsch Die Bücher sind die Unversehrten im Kriegsversehrtenheim. Weil Menschen Böses tun, müssen die Bücher vor ihnen geschützt werden. Gleichwohl ist der Vater ein leidenschaftlicher Leser und verhinderter Wissenschaftler. Bücher und Wissenschaft gehören für ihn zusammen; das Menschheitswissen ist sein Trost. Als unehelicher Sohn eines reichen Bauern und seiner Magd brachte er sich als Kind selbst Lesen und Schreiben bei, wuchs in einem Klosterinternat auf und hätte studiert, wenn nicht der Krieg dazwischengekommen wäre. Sein größter Wunsch, dass eines Tages sein Name mit einem Doktor davor an der Tür eines Laboratoriums stehen möge, ging deshalb nicht in Erfüllung. Ganz ähnlich klingt dann aber auch der Wunsch der Tochter: Beim Nachhausegehen fragte er mich aus. Was ich einmal werden möchte. Ich sagte, ich möchte Schriftstellerin werden. Da lachte er und fragte, warum. Ich sagte: „Ich möchte, dass irgendwann mein Name auf einem Buchrücken steht.“ Quelle: Monika Helfer – Der Bücherfreund Wie wir wissen, hat dieser Wunsch sich erfüllt. Nach Monika Helfers Roman „Vati“ ist auch die Legende vom Bücherfreund ein Vermächtnis, mit dem die Welt der Bücher, der sich der Vater verschrieben hatte, auf ganz andere Weise bewahrt wird. Das Kindheitsparadies – nichts anderes war diese abgelegene Bergwelt mit dem Bücherschatz im Herzen – war wie jedes Paradies nicht von Dauer. Die Mutter starb, das Heim wurde aufgelöst und in ein Hotel umgewandelt, die Familie musste raus, die Bibliothek sollte im Antiquariat verramscht werden. Diesen Gedanken konnte der Vater nicht ertragen und suchte nach einem Weg, um die Bücher, wenigstens die guten, also fast alle, zu retten. Doch wie unterscheidet man gute von schlechten Büchern? Seine Antwort ist einfach: Am Geruch. Bei guten Büchern verwendet der Buchbinder besseres Papier und besseren Leim. Aber natürlich weiß er auch, dass erst die Lektüre wirklichen Aufschluss gibt. Der Vater kann sich von keinem einzigen seiner Bücher trennen. Keine autofiktionale Literatur Der Stoff mag mehr oder minder autobiographisch sein, doch Monika Helfer ist meilenweit entfernt von der gängigen autofiktionalen Literatur etwa von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Karl Ove Knausgard. Ihr nahezu märchenhafter Es-war-einmal-Tonfall katapultiert das Erzählte aus der bloßen Erlebnishaftigkeit heraus. Die Verdichtung des Stoffs und die reduzierte Sparsamkeit des Ausdrucks, die zu knappen, präzisen Sätzen führt, sind geradezu das Gegenteil der barocken Überfülle eines Knausgard-Romans. Diese Verknappung konnte man schon in Helfers vorigem, Werk, der 365 Geschichten für jeden Tag umfassenden Sammlung „Wie die Welt weiterging“ bewundern. In „Der Bücherfreund“ gelingt es ihr erneut, historisches Material oder ganz Alltägliches in Literatur zu verwandeln und etwas entstehen zu lassen, das aus sich heraus lebt. So wie der Vater, der hier zu einer unvergesslichen Figur geworden ist.…
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1 „Wir wollen dem Publikum ein Gegenüber sein": Insa Wilke über das Literaturfestival „Lesen.Hören“ 9:15
Mit Insa Wilke haben wir über die Herausforderungen der Programmgestaltung, die Wünsche des Publikums und über die Vermittlerfunktion der Veranstaltung in einer Krisenzeit der Buchbranche gesprochen. „Lesen.Hören“: ein vielfältiges Programm Den Festivalauftakt machen Mely Kiyak und Max Uthoff . Die Mischung aus guter Unterhaltung und Anspruch mache ein gutes Festivalprogramm, weiß Insa Wilke. Die Schriftstellerin Mely Kiyak ist Preisträgerin des Heinrich-Mann-Preis 2025 für Essayistik der Akademie der Künste. Max Uthoff, bekannt aus „Die Anstalt", macht politisches Kabarett. In der Alten Feuerwache in Mannheim wird es im Rahmen von „Lesen.Hören" Veranstaltungen mit Nele Pollatschek, Julia Schoch, Asal Dardan, Joshua Gross, Abdalrahman Alqalaq, Antje Rávik Strubel und anderen Autorinnen und Autoren geben.…
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1 Von Jubiläen und Büchernarren: Neue Bücher von Monika Helfer, Feridun Zaimoglu, Fernando Aramburu und zwei Rilke Biografien von Sandra Richter und Manfred Koch 54:59
Das lesenswert Magazin mit Büchern von Monika Helfer, Feridun Zaimoglu, Fernando Aramburu und zwei Rilke Biografien von Sandra Richter und Manfred Koch
Eine Reise ans Ende der Nacht – davor warnt die Anmerkung am Anfang von Jennifer Downs Roman „Körper aus Licht“. Vernachlässigung, Verlust, sexualisierte Gewalt, Drogen- und Medikamentenmissbrauch werden als triggernde Inhalte benannt. Nein, dieses Buch ist keine leichte Unterhaltung. Über mehr als vier Jahrzehnte – von 1975 bis 2018 – folgt die junge australische Schriftstellerin Jennifer Down ihrer Protagonistin Maggie bei deren Versuch, Stabilität in einem Leben zu gewinnen, das seit Kindertagen durch Brüche und Unsicherheit geprägt ist. Als vierjährige Halbwaise ist Maggie, die Tochter drogenabhängiger Eltern, nach der Inhaftierung ihres Vaters einer quälenden Odyssee durch Heime, Wohngruppen und Pflegefamilien ausgesetzt. Frühe Traumatisierung Knappe Dialoge in einer authentisch nachempfundenen Jugendsprache geben den Blick auf Abgründe frei. Im Kinderheim trainiert der Heimleiter die elfjährige Maggie und ihre Freundin Jodie im Tennis. Jodie trennt ihr Zimmer mit einem Perlenvorhang vom Flur ab. Maggie versteht nicht, warum Jodie das Geräusch der Perlen hasst. Warum nimmst du sie nicht ab? Darum. Sag. Damit ich weiß, wann er kommt. Warum musst du wissen, wann er kommt?, fragte ich. Du solltest dir auch so was besorgen, sagte sie. Und so wusste ich, was mich erwartete, noch bevor das Training in mein Zimmer wechselte. Und wenn ich Jodies Perlenvorhang klackern und zittern hörte, kam mir reflexartig ein Gedanke: wenigstens nicht ich. Ich hängte mir ein Windspiel an die Tür. Quelle: Jennifer Down – Körper aus Licht Erzählt wird Maggies Geschichte aus der Ich-Perspektive in einem Wechsel aus Rückblende und Gegenwart. Maggie ist Mitte vierzig und lebt unter neuem Namen in den USA, als die Facebook-Nachricht eines Mannes sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Stationen ihrer Kindheit und Jugend sind nach Orten und Jahreszahlen geordnet. Wobei Ordnung hier eher als staatlich legitimiertes Chaos zu begreifen ist. Maggie lernt früh, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. „Ich war still und gewieft, und man bemerkte mich kaum“, erinnert sich die Erzählerin an ihre Rolle bei kindlichen Versteckspielen. Mit dieser Taktik überlebt sie das Trauma der Fürsorgejahre. Spätfolgen der staatlichen Fürsorge Der Start in ein bürgerliches Leben mit Ehemann und Kind scheitert, als Maggie sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Babys mit der Anklage der Kindstötung konfrontiert sieht. Ihre unklare Vergangenheit macht sie verdächtig. Maggie taucht ab. Sie jobbt unter neuem Namen in Neuseeland, zieht nach Amerika und bewahrt das Geheimnis ihrer Herkunft. Die vertrauensvollen Beziehungen, nach denen sie sich sehnt, verhindert sie selbst immer wieder. Jennifer Downs präzise Sprache richtet den Blick auf retraumatisierende Details wie Gerüche oder Landschaften, die Maggie bei unterschiedlichen Anlässen immer wieder überwältigen. Zwei Kritikpunkte mag man bei diesem insgesamt beeindruckenden Roman anführen. Die endlose Serie gescheiterter Beziehungen, Maggies Drogensucht und Obdachlosigkeit erwecken den Eindruck, als wolle die Autorin wie in einer Anklageschrift alle denkbaren Folgen einer verfehlten staatlichen Fürsorge abarbeiten. Hier hat der 540-Seiten-Roman durchaus Längen. Wenig glaubwürdig ist auch, dass die in Existenzkämpfen gefangene Maggie sich bildungshungrig in öffentlichen Bibliotheken durch die Klassiker liest. Da verlässt die ansonsten so einfühlsam erzählende Jennifer Down die Augenhöhe mit ihrer Protagonistin, um ein höheres Sprachniveau der Hauptfigur zu rechtfertigen. Hoffnung vermittelt der Roman durch Maggies unglaubliche Resilienz. Und durch den Umstand, dass sich Menschen finden, die ihr die Fürsorge geben, die der Staat ihr in Kindheit und Jugend nicht zuteil werden ließ. Gute Literatur darf ihren Leserinnen und Lesern etwas zumuten. Von Triggerwarnungen sollte man sich hier also nicht abschrecken lassen.…
„Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“ So heißt es bei Shakespeare und so steht es gleich auf den ersten Seiten von Richard Sennetts neuem Buch mit dem Titel „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“. Das klingt nach einer systematischen Studie zum Thema Rollenspiel und Präsentation, doch über solche Erwartungen setzt sich der betagte Autor souverän und ziemlich unbesorgt hinweg. Schauspiel und Ritual In lockerer Folge lässt Sennett zunächst vor allem eigene Bühnen- und Kunsterfahrungen seit den 1960er Jahre Revue passieren. Er erinnert sich an New Yorker Tanzexperimente in Parks und auf Gebäudedächern oder an eine Shakespeare-Inszenierung von todgeweihten AIDS-Patienten, an der er die Differenz zwischen Bühnenperformance und religiösem Ritual festmacht. In der Aufführung lag eine kreative Trotzhaltung gegenüber dem Tod, in dem vom Priester angebotenen Ritual dagegen eine tröstliche Hinnahme des Todes. In mir selbst bestand ein unbehagliches Nebeneinander dieser beiden Wege, dem Tod zu begegnen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Sennetts essayistisch-erzählerischer Stil kennt keinen Soziologenjargon, und das ist gut so. Weniger schön ist es, dass seine Schlussfolgerungen in diesem Buch oft so nebulös wie hier ausfallen. Theatergeschichte und andere Themen Sennett umkreist sein Thema des menschlichen Darstellungswillens anhand von zahlreichen Anekdoten, Beispielen und Überlegungen, die meist mit theatralen Bühnenereignissen zu tun haben. Daneben referiert er Ideen von Hannah Arendt, bei der er studiert hat, von Roland Barthes, mit dem er befreundet war oder Norbert Elias, mit dem er durch New Yorker Straßen spazierte. Zweifellos beweist der Autor bei all dem große Belesenheit, wenn er etwa die allmähliche Verlagerung der öffentlichen Schauspiele von den Plätzen und Straßen der Antike in feste Spielorte wie das Teatro Olimpico im Vicenza der Renaissance nachzeichnet. Aber vieles von dem, was er hier ausbreitet, ist geläufiger Wissensstoff der Theatergeschichte, der keine neuen Erkenntnisse mit sich bringt. Die „bösartigen Darbietungen“ der Politik Im Vorwort verweist Sennett auf zwei prominente Demagogen, die gerade die „Bühne der Öffentlichkeit“ beherrschten, als er mit der Arbeit an diesem Essay begann. Er schreibt: Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien sind geschickte Darsteller. Bei bösartigen Darbietungen dieser Art werden allerdings dieselben Ausdrucksmittel eingesetzt wie bei anderen Ausdrucksformen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Das ist kurz und ungenau und da es nirgendwo weiter ausdifferenziert wird, schlichtweg nichtssagend. Andere historische Großdarsteller wie Lenin, Hitler oder Mao kommen überhaupt nicht vor, genauso wenig wie der Kurzschluss zwischen Führern und ihrer Gefolgschaft im Populismus. Das heißt, die Politik wird nur im Buchtitel genannt, ist aber im übrigen praktisch ein Totalausfall. Kurzum, der Fehler dieses Buches liegt in seiner Konstruktion. Die Ausgangsfrage des Essays, „wie hohe Kunst Bedeutung für das alltägliche Leben erlangen könnte“, gerät bald aus dem Blick. Greifbare Antworten darauf finden sich jedenfalls in diesen sprunghaft aneinandergereihten Reminiszenzen und Reflexionen eines Soziologen nicht. Richard Sennett hat schon großartige Bücher geschrieben, dieses gehört leider nicht dazu.…
Noburo denkt groß. Er hat gewaltige Pläne. Will ein Held werden. Mit seinen 13 Jahren geht er ganz in existentialistischem Pathos auf. Mit gleichgesinnten Freunden träumt der kleine Romantiker von einer anderen Welt, in der alles Verweichlichte ausgemerzt ist. Nietzsche hat hier im japanischen Yokohama einen glühenden Verehrer gefunden. Diese Jungs wollen eine Gesellschaft mit eigener Moral, in der das Recht des Stärkeren und des Unbedingten gilt. Nur Verachtung haben sie übrig für die schwächliche Vätergeneration. Fremde Werte und Ästhetik lehnen sie ab. Zwischen Tradition und Moderne Noburus Mutter Fusako, die sich nach dem Tod ihres Mannes alleine um ihren Sohn kümmert, scheint all das von den Jugendlichen Abgelehnte zu repräsentieren: Sie führt ein Geschäft, in dem westliche Mode angeboten wird. Das Japan der Nachkriegszeit, in dem Yukio Mishimas Roman „Der Held der See“ spielt, scheint hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne. Da taucht Ryuchi auf, ein Seemann, der zum Geliebten der Mutter wird. Noburu ist zunächst fasziniert von diesem Mann. Ryuchi scheint all das zu verkörpern, wonach er selbst strebt: Freiheit, Abenteuerlust und Todesverachtung. Und all diese Sehnsüchte bündeln sich im Meer. Als der Junge seine Mutter und ihren Verehrer durch ein kleines Guckloch beim Liebesakt beobachtet und im Hintergrund das Horn eines Schiffes ertönt, hat er ein fast epiphanisches Erlebnis: Der Mond, die Meeresbrise, der Schweiß, das Parfüm, das nackte Fleisch des reifen Mannes und der reifen Frau, die Spuren der Fahrten auf See, die Reste der Erinnerung an die Häfen der Welt. Erst durch das Horn waren sie eine kosmische Verbindung eingegangen und hatten Einblick in den unentrinnbaren Kreislauf des Daseins gewährt. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Rache am Verräter Mit Ryuchi, der selbst von einem ruhmreichen Leben träumt, sich aber gegen das Meer und für die Ehe mit Fusako entscheidet, erlebt der Junge eine abgrundtiefe Enttäuschung: Fast wie eine Schmähung und Beleidigung nimmt er dessen Verrat an Männlichkeit und Wagemut wahr. Er erzählt seinen Freunden davon, und sie beschließen, diesen Verrat zu rächen. Wir brauchen Blut! Menschliches Blut! Sonst wird unsere leere Welt verwelken und verdorren. Wir müssen das lebendige Blut aus diesem Mann herauspressen und es wie eine lebensspendende Transfusion dem sterbenden Universum, dem sterbenden Himmel, den sterbenden Wäldern und der sterbenden Erde zuführen. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Yukio Mishima war eine der schillerndsten und zwiespältigsten Figuren der Literaturgeschichte: Mit seinen avancierten Romanen – gerade auch mit „Der Held der See“ – hat er Klassikerstatus erlangt. Zugleich war er ein glühender Nationalist und wird bis heute von Rechtsradikalen verehrt. Sein „Held der See“, übrigens in angemessener poetischer Kühle übersetzt von Ursula Gräfe, ist ein mit scharfen Kontrasten spielendes Werk: Meer und Land, Idealismus und Realismus, Glaube und Entfremdung, Dekadenz und Einfachheit, Oben und Unten. Bedrohlich und gegenwärtig Die adoleszente Suche nach etwas Wahrhaftigem und Absolutem, so sehr sie auch in der japanischen Nachkriegszeit verortet ist, bekommt hier universellen Charakter. Die Verzweiflung, die durch eine verstörende Tat aufgehoben werden soll, war, als das Buch erschien, anschlussfähig: Eine amerikanische Verfilmung des Stoffes spricht ebenso dafür wie die auf dem Buch basierende Oper „Das verratene Meer“ von Hans Werner Henze. Liest man den Roman heute, fasziniert durchaus die konsequent mit Bedeutung aufgeladene, aber doch sehr nüchterne Sprache; die Schilderung von Gleichgültigkeit und Pathos und der zunehmenden Verrohung der Jugendlichen, die sich auf eine höhere Moral berufen. Zugleich aber ist der essentialistische Unterstrom dieses Buches, auch wenn man um die Ansichten Mishimas weiß, bedrohlich und trostlos – und nicht zuletzt kompatibel mit den Backlashs unserer Gegenwart.…
Wem ein lukullisches Mal serviert wird, der bekommt in der Regel raffiniert zubereitete Speisen und edle Getränke. Man erhebt sein Glas auf „Lucullus“ – den König aller Schlemmer. Doch der Römer Lucius Licinius Lucullus war weitaus mehr als ein antiker Gourmet. Das beweist der deutsche Althistoriker Peter Scholz in seinem neuen Buch. Dessen Lebensgang – vom erfolgreichen Militär zum resignierten, zurückgezogen lebenden Gourmet und Genussmenschen – wurde zum anschaulichen Beleg für den Verfall und für die These vom längst überfälligen Ende der Republik und ihrer uneinsichtigen Verteidiger. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Lucullus und die Römische Republik Lucullus stammte aus einer wohlhabenden politisch agierenden Familie. Bereits sein Großvater hatte die Senatorenwürde erlangt. Lucullus gehörte der Partei der „Optimaten“ an, das heißt, er vertrat die eher konservative Aristokratie und war daher ein strikter Verfechter der Vorherrschaft des Senats. Peter Scholz schildert kenntnisreich und detailliert die Problematik der römischen Republik im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt. Neben dem klassischen, aristokratisch geprägten Senat gab es zu Zeiten des Lucullus auch plebeische Magistrate und Volksversammlungen mit ihren Volkstribunen. Als „conscripti“, als „Hinzugeschriebene“ gelang es alsbald reichen Plebejern, in den Senat aufgenommen zu werden. Gleichzeitig dehnte sich das römische Reich permanent aus. Nur mit großer Mühe regelten die verschiedenen Entscheidungsgremien – die schon lange nicht mehr mit einer Stimme sprachen – die Staatsgeschäfte der res publica. Lucullus als Politiker und Feldherr Im Jahr 74 v. Chr. wurde Lucullus zum Konsul gewählt. Seine militärischen Erfolge beruhten hauptsächlich auf der Befriedung der Provinz Asia. Dabei ging er diplomatisch vor, indem er selbst widerspenstigen Städten den Status „civitates liberae“ verlieh, ihnen also weitgehende Autonomie zusagte. Die Popularität des Lucullus in Kleinasien fand ihren sichtbaren Ausdruck in den Statuen, mit denen ihn verschiedene Bürgerschaften der Provinz Asia in den Folgejahren ehrten. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Doch Lucullus konnte seinen Ruhm nicht festigen. Der Mann der Stunde hieß Gnaeus Pompeius Magnus. Mit teils diktatorischen Mitteln zügelte er den Senat und stärkte seine Position durch enorme militärische Erfolge. Sein späteres Geheimbündnis mit Gaius Julius Caesar weist schon den Weg in die Zukunft: das Ende der römischen Republik. Peter Scholz weist aber nach, dass sich Lucullus nicht rein ins Privatleben zurückzog. Seine aktive Teilnahme an Senatssitzungen ist bezeugt. Lucullus als Ästhet und Genießer Doch tatsächlich berühmt wurde er durch seinen erlesenen Geschmack – sei es in der Kunst, in der Ausstattung seiner Villen oder eben durch die erlesenen Speisen, die er seinen Gästen servierte. Doch genau aus diesem Verhalten kreierten seine Gegner das Bild eines Mannes, der hemmungslos seiner Genusssucht frönt. In dieser Schwundstufe ging er in die allgemeine Erinnerung ein: Als Mann, der die Süßkirsche aus Kerasos nach Italien und Westeuropa gebracht hatte, und nicht als erfolgreicher Feldherr und Politiker, der um die Freiheit der Republik gekämpft hatte. Quelle: Peter Scholz – Lucullus In seinem Buch „Lucullus. Herrschen und Genießen in der späten römischen Republik“ gelingt es Peter Scholz auf vorzügliche Weise, das bis heute geltende Bild von Lucullus als Genießer und Schlemmer zu revidieren. Mit dessen Lebensbild öffnet sich auch die historische Bühne der römischen Republik in ihrer Endzeit. Lucullus war jemand, der die Senatsdemokratie mit allen Mitteln verteidigte und mitansehen musste, wie diktatorisches Regieren an Macht gewann. Der Bürgerkrieg war die Folge, aus dem Julius Caesar als Sieger hervorgehen sollte. Damit bietet Peter Scholz nicht nur ein äußerst interessantes Sittenbild Roms, sondern auch eine Parabel auf heutige politische Gegebenheiten.…
„Es gibt drei große Männer in Deutschland. Thomas Mann, Heinrich Mann, Henselmann.“ Der Mann, der das sagte, hatte Humor. Aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: Es war der Architekt Hermann Henselmann. Der wohl bedeutendste Baukünstler der DDR war im Herzen immer ein Anhänger der Moderne. Als er 1949 aber an der Planung der Berliner Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, beteiligt war, musste er Kompromisse eingehen. Entsprechend des „Nationalen Aufbauprogramms“ war das klassizistische Erbe Doktrin. Henselmann entwarf die vier markanten Türme am Frankfurter Tor und am Strausberger Platz: dem östlichen und westlichen Ende der Allee. Bis heute aber ist sein Name Synonym für den gesamten Prachtboulevard mit historisierendem Antlitz. Florentine Anders meint: „Das ist auch ein bisschen Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet damit immer sein Name verbunden bleibt und Viele gar nicht wissen, dass er eigentlich viel mehr aus der Moderne kam und das dann auch durchgesetzt hat mit in der DDR, was man dann sieht am Haus des Lehrers und der Kongresshalle zum Beispiel." Oder dem weithin sichtbaren, unverwechselbaren Berliner Fernsehturm, der die Silhouette der Stadt bis heute prägt. – All diese Bauwerke sind Ikonen der Ostmoderne. Ihr Buch über den berühmten Großvater nennt Florentine Anders trotzdem „Die Allee“ – vielleicht hat sie da auch an den französischen Wortursprung „aller“ für „spazieren“ oder „gehen“ gedacht. Und so ist ihr Roman eine aufschlussreiche Wanderung: nicht nur durch das Leben des bekannten Architekten und seiner großen Familie, sondern auch entlang 100-jähriger Baugeschichte. Ein Roman nah an der Realität, der aus vielen Perspektiven berichtet Das Besondere daran: der persönliche Blick auf die Häuser und Menschen. Ein Blick zumal, der den realen Geschehnissen ganz nah auf den Fersen bleibt, selten in die Fiktion abschweift, viele Perspektiven einnimmt. Neben der Hermann Henselmanns auch die seiner Frau Irene, genannt Isi, die immer wieder versucht, in der Baukunst Fuß zu fassen. Isi will sich nicht länger der Herausforderung entziehen Und sich über entgangene Möglichkeiten ärgern. In der DDR kann auch eine Frau mit acht Kindern eine erfolgreiche Architektin sein. Den Beweis gilt es anzutreten. Für das Hochhaus in der Weber Wiese hat sie ihre ersten eigenen Entwürfe für funktionale Einbauküchen gemacht. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Sie orientiert sich dabei an der berühmten Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Bezeichnend: keine Häuser oder Wohngebiete, eine Küche entwirft Isi Henselmann. Mehr ist nicht drin, auch nicht in der jungen DDR. Das Haus an der Weberwiese, in das diese Küchen eingebaut werden, hat ihr Mann Hermann entworfen. Allerdings nur mit Mühe und Trotz hat er sein modernes Punkthochhaus gegen den Willen der Partei durchsetzen können. Und mit dem Zuspruch seines Freundes Bertolt Brecht, der ihm Mut machte. Hermann ist aufgebracht bringt laut und übersprudelnd all seine Argumente hervor. Brecht hört zu und reagiert dann reagiert ruhig und besänftigend. Die Arbeit der Klasse sei eben noch nicht reif für die Moderne. Der Künstler dürfe sich nicht über das Volk erheben, sondern müsse den Menschen kleinere Schritte zumuten und sie behutsam in die richtige Richtung bewegen. Erst wenn sich das Bewusstsein verändert habe, werde auch die neue Form populär werden. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Hermann Henselmann – eine komplexe Persönlichkeit Tochter Isa erlebte Brecht noch im Hause Henselmann. Sie ist die Mutter der Autorin. Auch sie ist eine Protagonistin des Romans. Isa hatte es als Kind nicht leicht in der Familie. Der zu Jähzorn und Wutausbrüchen neigende Vater hat sie oft verprügelt. Das Gesicht des Kindes auf den Fliesenboden geschlagen. Darüber zu schreiben, gehört dazu, sagt Florentine Anders. Sie selbst hat ihren Großvater vor allem als liebevollen Anreger kennengelernt. Hermann gab mir jedes Mal ein Buch, bis zum nächsten Treffen sollte ich es gelesen haben, damit wir gemeinsam darüber reden können. Er gab mir selbstverständlich keine Kinderbücher, sondern Bücher von Thomas Mann oder Bertolt Brecht. Jedes Mal lag eine kleine Auswahl, die er sich für mich überlegt hatte, auf seinem Schreibtisch und ich durfte mir ein Werk daraus auswählen. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Die komplexe Persönlichkeit Henselmanns auf den Punkt gebracht hat die Schriftstellerin Brigitte Reimann, eine sehr enge Freundin der Familie, weiß Anders: „Brigitte Reimann hat einmal gesagt, wenn man Henselmann beschreiben will, dann muss man einfach alle Gegensätze die einem einfallen, aufzählen und dann liegt man so ganz richtig." Der Roman erzählt chronologisch und schaut dabei immer wieder auf die unterschiedlichen Lebensphasen und -entwürfe seiner drei Hauptpersonen Herrmann, seiner Frau Isi und Tochter Isa (eines der insgesamt acht Kinder!), blickt auf ihre Arbeitsweisen, Erfolge und Niederlagen, entwirft ein lebenspralles Bild dieser berühmten DDR-Familie. Ikonen der Ostmoderne – Vom Fernsehturm bis zum Haus des Lehrers Zugleich sieht man vor dem geistigen Auge die imposanten Türme am Strausberger Platz wachsen und die ersten Mieter in die großzügigen Wohnungen einziehen, darunter zahlreiche Trümmerfrauen und Arbeiterfamilien, erblickt den Fernsehturm mit seiner unverwechselbaren Kugel, um deren Urheberschaft zäh gestritten wurde und die Kongresshalle mit dem Haus des Lehrers am Alexanderplatz. „Die Allee“ ist nicht das erste Buch über Hermann Henselmann. Aber es eröffnet neue Perspektiven auf den Architekten, seine Bauten und die Menschen an seiner Seite.…
Wir leben in Zeiten, in denen das Groteske alltäglich wird. Politik und Tech-Industrie liefern absurde Wendungen, die selbst Horrorfilme alt aussehen lassen. In den letzten Jahrzehnten war es eher umgekehrt: Die Fiktion übersetzte unsere unbewussten Ängste und Fantasien in drastische Erzählungen. Heute kann sie kaum noch mit der Realität Schritt halten. Zach Williams‘ Debüt mit dem euphemistischen Titel „Es werden schöne Tage kommen“ ist ein bemerkenswerter Erzählungsband, zugleich anachronistisch und komplett gegenwärtig. Er knüpft an die Tradition psychologischer Albtraum-Geschichten an, in denen das Vertraute plötzlich unheimlich wird und die Grenze zur Dystopie fließend ist. Autoren wie George Saunders oder Cormac McCarthy kommen einem in den Sinn, wenn man diese zehn, von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz meisterhaft übersetzten Storys liest. Zugleich brodelt in ihnen etwas – ein Echo unserer unsicheren Gegenwart. Ich flog durch die Tür zur Lobby und blickte mich dann keuchend zum Unwetter um. Es war schlimm da draußen. Die Stadt bestand nur noch aus vagen Umrissen und schwebenden Lichtern; der Schnee trieb in Wellen über die Nineteenth Street. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Der Auftakt: ein düsterer Probelauf „Probelauf“ heißt die Auftakterzählung, die 2022 in der Paris Review erstmals erschienen ist. Der Erzähler sucht mitten in einem gewaltigen Schneesturm seinen Arbeitsplatz auf, ein fast verlassenes Bürogebäude. Nur Manny ist da, ein Wachmann mit bizarren Ansichten und einem Hang zur Paranoia. Abgeschirmt von der zugeschneiten Welt draußen, wird es drinnen immer ungemütlicher, klaustrophobischer, bedrohlicher. Ein weiterer Kollege erscheint, der den Erzähler in ein allzu intimes Gespräch verwickelt, das ihn unangenehm berührt. Es ist immer wieder die Rede von mysteriösen Mails, von einer dunklen Macht, aber alles bleibt im Vagen. Sie waren Mitglieder eines eigenartigen Bunds, die einander instinktiv erkannten, Blicke wechselten, sich heimlich auf etwas vorbereiteten, vielleicht nicht mal auf das Gleiche, aber gleich in ihrem Sinnen und Trachten. Und mich hatten sie als einen von ihnen ausgemacht. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Das Unbehagen unserer Zeit Ein Gefühl der Unsicherheit und Unfassbarkeit durchzieht die Geschichten von Williams. Ein Schatten legt sich über die Figuren, kontrolliert sie, ist aber nie recht zu fassen. Es ist da ein zeitgenössisches Unbehagen, spätestens seit der Corona-Pandemie ein sehr konkretes Gefühl. Williams‘ Erzähler sind oft Angeschlagene, leicht aus der Bahn Geworfene, obwohl sie sich vermeintlich feste Strukturen geschaffen haben. So auch in „Das Sauerkleehaus“: eine dreiköpfige Familie erwacht in einer idyllischen, abgelegenen Waldhütte. Weder wissen sie, wie sie dort hingekommen sind, noch von wem sie jeden Tag mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgt werden. Es gibt keine anderen Menschen, keine wechselnden Jahreszeiten, keine Möglichkeit, anderswo hinzugelangen. Jacob war der Meinung, am besten käme man der Situation durch Zahlen, Fakten, Aufzeichnungen auf den Grund – kurz, durch alles, was sich irgendwie beobachten und festhalten ließ, denn nur auf diese Weise konnten Rätsel gelöst werden. Ronna dagegen vermutete, dass dieser Ort nicht solchen Regeln folgte. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Noch gespenstischer wird es, als Sohn Max einfach nicht altert, während Jacob und Ronna älter werden und sich mehr und mehr entfremden. In einem der längsten Texte – „Ghost Image“ – verwandelt sich der Sohn des Erzählers insgeheim in dessen früheren Boss Joe Daly, einen Ausbund an Gewöhnlichkeit, der zu einer Art Symbol des Scheiterns wird. Die Geschichte steuert auf einen Ausflug in ein apokalyptisches Disney World zu – dorthin, „wo Träume wahr werden“. Allerdings ist das Schild mit dem Slogan übermalt und lautet nun: „wo Träume absterben“. Choreografie des Absurden In einer anderen Erzählung findet ein Mann seine tote Nachbarin in ihrer Wohnung, im Sessel vor dem Fernseher. Plötzlich bemerkt er einen maskierten Fremden in der Wohnung, es beginnt eine kafkaesk anmutende Verfolgungsjagd. Die absurde Situation scheint sich endlos hinzuziehen. Ich geriet in Panik. Er bewegte sich am Fernseher vorbei, aufs Fenster zu. Unser Kreislauf war ununterbrochen. Die Wiederholung hatte den Charakter eines Albtraums. Ich sagte ihm, er würde verhaftet werden, aber es kam in einem flehentlichen Ton heraus, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es selbst glaubte. Die Polizei, die gleich diese Treppe heraufkommen würde, in diese Situation hinein – das waren zwei unvereinbare Realitäten. (…) Ich wollte zu Boden sinken und den Kopf zwischen die Knie stecken, aber ich hatte den furchtbaren Gedanken, dass er einfach immer weitermachen könnte mit seinem absonderlichen Verhalten und jede neue Runde ihn dann an mir vorbeiführen würde. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Nichts ist sicher, nichts stabil Kleinstädtischen und kleinbürgerlichen Lebenswelten stellt Williams jene Unorte entgegen, in denen eigene oder gar keine Regeln mehr gelten – ein heruntergekommener Freizeitpark, ein verlassener Bürokomplex, eine Wüstenlandschaft. Die Figuren werden davon magisch angezogen, vielleicht weil sie sonst aus ihrem Sackgassendasein keinen anderen Ausweg finden. Oder sie werden durch eine unscheinbare Begegnung auf Abwege geführt. David Lynch lässt grüßen, wenn ein verwachsener Mann – Er war einfach ein kleines, seltsames Ding. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen – aus dem Schrank heraus seiner attraktiven Frau beim Liebesspiel mit dem Erzähler zusieht. Nikolaj Gogol schaut über die Schulter, wenn einem kleinen Kind über Nacht ein weiterer Zeh wächst und sein Vater in einen Strudel irrationaler Gedanken gerät. Williams’ grotesk-fantastische Geschichten spiegeln unsere spätmoderne Welt wider – eine Zeit, in der Künstliche Intelligenz Kreativität simuliert, in der liberale Gewissheiten langsam zerbröckeln und traditionelle Strukturen zerfallen. Mit subtilem Grauen, surrealem Humor und gnadenloser Präzision fängt dieser Erzählband das Gefühl ein, den eigenen Platz in dieser unsicheren Realität zu verlieren. Zach Williams‘ Erzählungen verstören – und bleiben lange im Gedächtnis.…
Mara hat prophetische Träume. Sie träumt etwas und kurze Zeit später passiert dies wirklich. Diese Gabe ist mehr Fluch als Segen, denn eines Tages träumt sie sogar den tödlichen Unfall ihrer Eltern, der dann tatsächlich eintritt. Ich hatte schon immer sehr lebendige Träume gehabt, wie wohl die meisten Kinder, aber irgendwann geschahen Dinge, die eben nicht normal waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Das ist schon lange her. Inzwischen ist Mara Lux eine bekannte Schlafforscherin und lebt in London. Obwohl sie auf neurowissenschaftlicher Ebene sehr viel über das Phänomen Schlaf weiß, schläft sie selbst schlecht. Beunruhigend realistische Träume Und dann sind auch die Träume wieder da. Mara träumt von ihrer Nachbarin, die plötzlich fliegen kann. Zunächst ist sie amüsiert, doch als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verlässt, sind unten auf der Straße viele Menschen versammelt. Vor dem Eingang flackert Blaulicht und jetzt sehe ich auch die Polizisten, die auf dem Gehweg stehen. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ein ganz, ganz schlechtes, dunkles, zähes, klebriges Gefühl. Die hübsche junge Frau aus dem ersten Stock wird auf mich aufmerksam und kommt zu mir. „Es ist Mrs. Jones“, sagt sie mit belegter Stimme. „Sie ist aus dem Fenster gesprungen, heute Nacht. Oder besser in den frühen Morgenstunden. Ist das nicht schrecklich?“ Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Ein merkwürdiges Angebot Mara ist schockiert. Am Abend wird sie sich einen gehörigen Rausch verpassen, weil sie weiß, dass Alkohol die Traumschlafphasen, den so genannten REM-Schlaf, unterdrückt. Gesund ist das nicht, auch das weiß sie. Aber es ist gerade zu viel los. Denn da ist noch diese merkwürdige E-Mail von einem Notar: Ein ihr unbekannter alter Mann möchte ihr ein Herrenhaus in Deutschland schenken. Keine Verpflichtungen, nur ein riesiges Haus in sogar annehmbaren Zustand. Mara zögert, macht sich dann aber doch auf den Weg, um es sich wenigstens einmal anzusehen. Als sie in dem kleinen Ort namens Limmerfeld ankommt, erkennt sie die Gassen wieder – aus einem Traum. Parallel zu Mara und ihren Abenteuern erzählt Autorin Melanie Raabe noch eine zweite Geschichte: Ich erinnere mich an das Gefühl des Laufens, so leicht, so frei. Ich erinnere mich, wie ich einen Blick über meine Schulter warf und sah, dass Kai mir dicht auf den Fersen war. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass ich nicht vergessen durfte, ihm zu sagen, dass er später beim Abendbrot auf keinen Fall erzählen sollte, dass wir im Wald gewesen waren, denn der Wald war verboten. Im Wald gab es einen alten Steinbruch und alte Schächte und all diese Dinge, vor denen Mama uns gewarnt hatte, seit wir klein waren. Ich erinnere mich, wie ich den Blick wieder nach vorne richtete, früh genug, um die morschen Planken vor mir zu sehen, nicht früh genug, um rechtzeitig innezuhalten. Und dann der Fall. Und dann die Hoffnung, Kai möge es geschafft haben, möge nicht ebenfalls in den alten Brunnen gestürzt sein. Und dann die Erkenntnis, dass wir beide hier gefangen waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Chantal Busse gehört zu jenen Schauspielerinnen, die ihre junge Stimme problemlos einem zehnjährigen Mädchen geben können und natürlich dennoch über das ganze gestalterische Repertoire verfügen, um ihrer Lesung die nötige Tiefe zu geben, Emotionen zu transportieren und Atmosphäre zu erzeugen. Hier ist offenbar ein großes Unglück geschehen. Erwachende Erinnerungen an ein Unglück in Kindheitstagen Das Mädchen wird es schaffen, aus dem Brunnenschacht zu klettern, um Hilfe für seinen bewusstlosen Bruder zu holen. Wie aber hängt diese Geschichte mit der von Mara zusammen? Diese hat sich inzwischen entschieden, die Schenkung anzunehmen und verbringt eine angemessen gruselige Nacht in dem verlassenen, aber komplett eingerichteten Haus, das ein seltsames Eigenleben entwickelt. Immer wieder geht das Licht an und Mara wird das Gefühl nicht los, nicht allein zu sein. Am nächsten Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, oder? Jetzt noch eine lange Dusche und ein ordentliches Frühstück und ich bin schon wieder ganz die Alte. Während ich noch das Badezimmer im Obergeschoss betrete, streife ich mir bereits das T-Shirt, in dem ich geschlafen habe, über den Kopf und… Mir entfährt ein kleiner, erstickter Schrei, als ich den Spiegel über dem Waschbecken sehe. Mein roter Lippenstift liegt im Waschbecken, die Verschlusskappe auf dem Boden. Jemand hat mir mit ihm eine Botschaft auf den Badezimmerspiegel geschrieben. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf „Ich sehe dich“, steht da. „Siehst du mich?“ Nicht gerade beruhigend. Autorin Melanie Raabe versteht ihr Handwerk. Nichts einfacher als einer jungen Frau nachts in einem leerstehenden Haus das Fürchten zu lehren, aber sie schafft es zudem, die Atmosphäre ganz langsam von bedrohlich in freundlich zu drehen, Verfolgte und Verfolger tauschen die Rollen. Schauspielerin Sithembile Menck vollzieht all das stimmlich mit. Gekonnt wechselt sie zwischen der selbstbewussten Forscherin zur verunsicherten jungen Frau und zurück, unterscheidet im Tonfall zwischen Traum und Wirklichkeit und hält die Spannung bis zuletzt. Einzig ein paar kleine grammatikalische Fehler im Text sind etwas ärgerlich, da hätten Lektorat oder Regie besser aufpassen müssen. Dennoch: „Der längste Schlaf“ ist ein gelungenes Hörbuch für alle, die es gerne mit dem Übersinnlichen aufnehmen – zum entspannten Hinübergleiten in die Nachtruhe ist es allerdings nicht zu empfehlen.…
Immer mehr Celebrities und Personen des öffentlichen Lebens sprechen in den Sozialen Medien über ihre Krisenerfahrungen und psychischen Belastungen – und das oftmals in ästhetisch ansprechenden Videos. Ambivalente Auswirkungen der Debatte Dass dies häufig auch Druck bei klinisch betroffenen Menschen auslösen kann und darüber, ob psychische Erkrankungen mittlerweile gar zu einem Trend geworden sind, spricht Soziologin und Autorin Laura Wiesböck. Sie analysiert in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“, warum psychologische Konzepte inflationär verwendet werden und welche gesellschaftlichen Folgen das hat. Ein Gespräch über den schmalen Grat zwischen Enttabuisierung und Selbstdarstellung.…
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1 Von Herzen, durch Zeiten, zwischen Welten: Neue Bücher u.a. von Jonas Lüscher und Zach Williams 54:57
Ob Lyrik als Heilmittel, das architektonische Erbe der Ostmoderne, oder die kritische Analyse eines Social-Media-Trends: Die Literatur eröffnet neue Perspektiven.
Jakob Leiner, Arzt und Schriftsteller, beweist mit seiner Gedichtsammlung, dass Medizin und Lyrik sehr wohl zusammenpassen. Beginnend mit der Neuzeit wandert er in seiner Anthologie durch 500 Jahre, in denen Gedichte über Krankheit und Heilung verfasst wurden, bis er schließlich in der Gegenwart ankommt. „Alles kommt vor“ in dieser Anthologie Die Gedichte spiegeln, laut Jakob Leiner, alles wider, was zur jeweiligen Zeit stattgefunden hat – seien es Pestzeiten, wissenschaftliche Errungenschaften oder technische Fortschritte innerhalb der Medizin. Ein Gespräch über Dichterärzte, Patientenklagen und den Trost der Sprache.…
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1 Jonas Lüscher schreibt in „Verzauberte Vorbestimmung“ über das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine 7:02
Der Einstieg in den Roman ist ein literarisches Versprechen, das im Laufe des Textes aber nicht eingelöst wird. Die Geschichte beginnt im Ersten Weltkrieg. Ein junger Mann sieht für sich keine Zukunft mehr im südalgerischen Heimatdorf. Also lässt er sich von der französischen Armee anwerben, um gegen die Deutschen zu kämpfen, über die der Rekrutierungsoffizier sagt, der Feind sei ein „Volk von Unholden“, (…) (…) regiert von einem zwirbelbärtigen, einfältigen Kaiser, brutal, gemein, aber gleichzeitig hasenfüßig, also kein Gegner, vor dem man sich zu fürchten brauche, weshalb auch nur mit einem kurzen Krieg zu rechnen sei und er davon ausgehen könne, spätestens zum Ende des Jahres wieder heimzukehren, als Held mit Orden auf der Brust und Sold in der Tasche. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Einsatz in Frankreich Der Algerier lässt sich auf das zweifelhafte Angebot ein und wird vor dem Einsatz an der Front „für ein paar Wochen in der Kunst des Schießens“ unterrichtet. Aber er hat, was seine Zeit nach dem Krieg betrifft, etwas anderes im Sinn. Orden interessieren ihn nicht, er möchte sein „Glück in Paris versuchen“. Da der Offizier dem Rekruten verspricht, auch das „sei möglich“, landet der Fünfundzwanzigjährige schon kurze Zeit später, nämlich im August 1914, in Frankreich und zieht mit fremden Kameraden in einen Krieg, der nicht der seine ist. Mit dem Zug brachte man sie nach Norden, über Avignon nach Anor an der belgischen Grenze. Von da an mussten sie marschieren, sechzig Kilometer kamen sie weit, bis kurz vor Charleroi, wo das Schlachten und Morden begann. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Soldat, der seinen Eid bricht Dem zunächst namenlose Soldaten würde man in Lüschers Roman „Verzauberte Vorstimmung“ gerne weiter folgen, zumal er seinen Eid bricht, sich an die Vorbestimmung, als Kanonenfutter zu enden, nicht halten will, sondern auf nahezu märchenhafte Weise die eigene Zukunft in die Hand nimmt. Sein Geist sagte: kämpfen, rennen, laufen, flüchten. Sein Leib war ein einziges Zittern. Dann ein einzelner klarer Gedanke: Nicht mit ihm. Nicht Teil dieser Maschinerie sein. Nicht mehr rennen, nicht mehr feuern, nicht mehr töten, nicht mehr kämpfen. Einer musste damit aufhören. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte Die Fahnenflucht scheint gelungen zu sein, die genauen Umstände erfahren wir nicht. Von kriegsbedingen Lungenschäden gequält, wird der ruhmlose Held nach dem Krieg in Frankreich eine Anstellung als Briefträger erhalten. Eine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Geschichte, die teilweise wohl auf wahren Begebenheiten beruht und deren Fiktionalisierung nun erst richtig beginnen könnte! Lüscher aber entscheidet sich, diese Neugier nicht zu befriedigen. Eine differenziertere Figurenpsychologie, die Fortführung dieser Geschichte scheint den Autor kaum zu interessieren. Stattdessen führt er sich als Ich-Erzähler ein, der nach einer schweren Covid-Infektion selbst mit gravierenden Atemproblemen zu kämpfen hat und der sich trotzdem auf strapaziöse Recherchereisen begibt. Ich war ein schlechter Reisender geworden, unsicher, gereizt, verletzlich. In nervöser Erwartung, die Mitreisenden könnten sich einer hygienischen Verfehlung schuldig machen, suchte ich nach freigelegten Nasen, nach unter dem Kinn hängen Masken. Die Essenden strafte ich mit strengen Blicken. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Literarisches Spiegelkabinett Lüschers Spurensuche, die mal Züge einer essayhaften Reportage trägt und mal mit Mitteln der historischen Fiktion arbeitet, führt durch unterschiedlichste Epochen und zu den verschiedensten Schauplätzen. Ein literarisches Spiegelkabinett mit vielen Sackgassen und verwirrenden Verfremdungseffekten. Oft gibt es nur lose Verbindungen von einer Erzählinsel zur nächsten; am späteren Arbeitsort des lungenkranken Briefträgers hat beispielsweise auch der Schriftsteller und Maler Peter Weiss gelebt. „Die Maschinen greifen die Menschen an“ – so heißt eines seiner Gemälde, was den Erzähler ins böhmische Varnsdorf führt, was die Leserinnen und Leser kurzerhand in die Zeit der Weberaufstände katapultiert: So wird von einem fleißigen Handwerker berichtet, der zu seinem Ärger durch einen automatisierten Webstuhl ersetzt werden soll. Erzählstränge von Metareflexionen unterbrochen Der Weber raubt einen Hammer und zertrümmert die bedrohliche Maschine. Eine dramatische Szene, die aber keineswegs linear erzählt wird. Immer wenn es interessant werden könnte, sind wir bei Lüscher schon in einem neuen Setting. Als wäre das nicht komplex genug, werden die verschiedenen Erzählstränge regelmäßig von sprachlichen Metareflexionen unterbrochen – da klingt dann ein aufgebrachter Weber aus dem 19. Jahrhundert auch mal wie ein in Erzähltheorie geschulter Romancier der Gegenwart. Aber was war eigentlich sein Punkt? So genau wusste er das auch nicht, war doch der Sinn seines Erzählens weniger der, seinen Kindern und seiner Frau etwas klarzumachen, ihnen irgendein Faktum einzubläuen oder ihnen ein so ist recht und so ist falsch und so und so sollst du handeln vorzukauen. Eigentlich, so musste er sich eingestehen, erzählte er, um selbst zu verstehen, oder besser noch, um sein eigenes Nachdenken zu formen. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Ja, was ist eigentlich der Punkt bzw. worin besteht der inhaltliche und sprachliche Kern dieses Romans, der in so viele Einzelteile zerfällt? Es geht zweifelsohne um das Verhältnis von Mensch und Maschine; es werden politische, technische und ökonomische Zwangläufigkeiten geschildert, die zumindest im Roman außer Kraft gesetzt werden. Menschliche Träume oder Wahnsinn virtueller Maschinen? Lüscher gibt den Sprachzauberer, wirbelt mit Erzählperspektiven, mit recherchiertem und erfundenem Material herum. Doch der Erkenntnisgewinn ist gering, die Ästhetik wirkt vor allem: überambitioniert. Paradoxerweise ist das Werk, das auch ein Lehrstück über die Gegenwart sein soll, über alle Epochen und Szenen hinweg in einer antiquierten, betont elaborierten Sprache gehalten. Am Ende reisen wir mit dem Ich-Erzähler durch die noch im Bau befindliche neue Verwaltungshauptstadt Ägyptens. In der Wüste vor den Toren Kairos stehen bereits leere Hotels und eine Oper, in der seit der Eröffnung keine Musik mehr erklungen ist. Eine unwirkliche Welt, in der schließlich die Schatten der Menschen ein Eigenleben entwickeln. Ist das die böse Zukunft der künstlichen Dummheit? Es ist völlig unklar, ob wir uns noch in menschlichen Träumen oder schon im Wahnsinn der virtuellen Maschinen befinden. Romanruine, die ratlos macht Jonas Lüscher zieht alle literarischen Register und überzeugt gerade deshalb nicht. „Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine Romanruine, die ratlos macht. In einem Interview erklärt der Autor, er habe ursprünglich ein anderes Buch schreiben wollen, doch die Pandemie habe auch den Zuschnitt des Textes verändert. Immerhin hätten die medizinischen Maschinen dem Schriftsteller das Leben gerettet. So ist „Verzauberte Vorbestimmung“ möglicherweise als Dokument des literarischen Scheiterns für Germanisten interessant, die eines Tages untersuchen werden, wie sich Corona auf die deutschsprachige Literatur ausgewirkt hat.…
Es ist einer der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Ich möchte lieber nicht.“ In der Erzählung „Bartleby“ von Herman Melville hält sich ein Büroangestellter gleichen Namens mit diesen Worten zunächst einzelne Tätigkeiten und schließlich die ganze Welt vom Leib. Der Totalverweigerer landet im sozialen Abseits und stirbt zuletzt. Der Verzicht, den der Schriftsteller John von Düffel im Sinn hat, soll dagegen gerade nicht in die Isolation führen, sondern das Leben reicher machen. „Es geht darum zu erkennen, wie wenig man braucht“, schrieb der Autor in seinem Buch „Das Wenige und das Wesentliche“, an das er nun anknüpft. Diese asketische Lebenshaltung begegnete John von Düffel erstmals während des Studiums in Schottland. Fiona, die nur auf einem Stein sitzen und denken wollte, wurde zu seinem Vorbild. „Ich möchte lieber nichts“ – „I dont’t feel like consuming“, so lautete ihre Standardantwort auf das Angebot, mit in die Mensa oder die Kneipe zu kommen. Nach 35 Jahren trifft er sie in Edinburgh wieder. Er will herausfinden, wie Fiona lebt. Inwieweit gelingt es, so eine Lebenseinstellung auch in Alltag zu übersetzen? Man kann sich ja viele schöne Gedanken beim Kaminfeuer machen. Aber wenn dann der nächste Tag losgeht, wie viel davon kriegt man umgesetzt? Und deswegen war’s für mich wichtig zu gucken: Wie verzahnen sich diese Gedanken mit dem wirklichen Leben? Und wie ist das in Fionas Fall? Was für eine Geschichte hat sie? Quelle: John von Düffel Fragen nach dem richtigen Leben Von der Begegnung erzählt das neue Buch. Zwei Tage bleibt der Ich-Erzähler, der von John von Düffel kaum zu unterscheiden ist, in Edinburgh. Gemeinsam mit Fiona spaziert er durch die Stadt. Den Lehrersohn aus der norddeutschen Provinz und die Tochter aus einer Glasgower Arbeiterfamilie trennen Welten. Während er mit großen Fragen nach dem richtigen Leben angereist ist, hat Fiona wenig Interesse daran, die Diskussionen aus den Philosophieseminaren von einst fortzusetzen. Sie wird viel zu sehr von ihrem fordernden Alltag als Mutter und Streetworkerin vereinnahmt, von dem sie jedoch nur zögerlich berichtet. Umso entschiedener markiert sie die Unterschiede zu ihrem Gegenüber. Deine Krisen und meine Krisen waren schon damals verschieden und sind es vermutlich nach wie vor. Insofern weiß ich nicht, ob ich dir so viel Kluges sagen kann. Anders als im Studium habe ich die letzten Jahrzehnte mehr gelebt als gelesen. Und du? Quelle: John von Düffel – Ich möchte lieber nichts Soziale Prägungen und Beschränkungen Das nur mühsam in Gang kommende Gespräch der beiden ist trotzdem erhellend – und das ist Fionas schroffer Direktheit zu verdanken. Das Idealbild, das der Ich-Erzähler von ihr entworfen hat, ohne sie je wirklich zu sehen, korrigiert sie. Ihr Mut, anders zu sein als die anderen, war gar kein Mut, erklärt sie: „Ich musste von nichts abweichen, ich war nicht mal in Reichweite der Norm.“ Fiona fehlte es schlichtweg an Geld, um mit den anderen essen zu gehen. Die Unterhaltung führt weg vom Nachdenken über Konsumverzicht und Askese hin zu Fragen von Herkunft und Status, von sozialen Prägungen und Beschränkungen, wie sie zuletzt immer häufiger auch in der Literatur verhandelt werden. Fiona ist auch ein Beispiel für ein Ausbrechen aus sozialen Gefängnissen oder Käfigen. Und gleichzeitig ist sie aber auch ein Beispiel dafür, wie soziale Benachteiligung auf eine Art immer weitergeht, auch wenn man es vordergründig auf ein anderes Level schafft. Quelle: John von Düffel Das Buch wirkt auf eigentümliche Weise disparat und unfertig. Verstärkt wird dieser Eindruck durch einen Mittelteil mit mal mehr, mal weniger überzeugenden philosophischen und kulturkritischen Betrachtungen. John von Düffel will davon erzählen, welcher Freiheitsgewinn in der Askese liegt. Doch dazu taugt die Begegnung in Edinburgh nur wenig. Das Treffen macht vielmehr deutlich, in welchem Maß die freie Entscheidung zum Verzicht eine privilegierte Entscheidung ist. Fionas Geschichte, eine Geschichte versperrter Möglichkeiten, skizziert das Buch nur. Gerade über ihr ganz anderes, nicht privilegiertes Leben hätte man jedoch gern mehr gelesen.…
Der indische Strukturbiologe Venki Ramakrishnan steht den Versprechen ewiger Jugend und Fitness ausgesprochen skeptisch gegenüber. Sie sind, wie er jetzt in seinem Buch „Warum wir sterben“ nachweist, absurd, denn der Alterungsprozess unseres Körpers lässt sich nicht abschaffen. Für Laien wie mich ist „Warum wir sterben“ keine leichte Lektüre, denn der ausgewiesene Genexperte beschreibt in aller Detailfreude, wie die Zellen funktionieren. So allgemeinverständlich Ramakrishnan auf 300 Seiten die genetischen Vorgänge auch erklärt, man muss sich die verschiedenen Funktionen der unterschiedlichen Zellformen immer wieder in Erinnerung rufen. Bisweilen helfen kleine Zeichnungen beim Verständnis. Die Erforschung des Alterns Ramakrishnan geht weit zurück in der Geschichte der Erforschung des Alterns. Er stellt berühmte Forscherinnen und Forscher vor, beschreibt, wie sie oft gegen den Widerstand ihrer Wissenschaftsgemeinschaft auf ihre Entdeckungen gestoßen sind. Spätestens seit der Entdeckung des Doppelstrangs der DNA sind rasante Fortschritte gemacht worden. Sie zeigen deutlich, wie kompliziert das Zusammenspiel der verschiedenen Bestandsteile einer Zelle ist. Entscheidend sind die Gene der DNA, denn sie enthalten die Information, wie Proteine aufgebaut werden. Ohne Proteine kein Leben. Proteine steuern den Körper und befähigen die Zelle, Fette, Kohlehydrate, Vitamine und Hormone herzustellen. Sie produzieren die Antikörper, die Infektionen bekämpfen, speichern sogar Erinnerungen im Gehirn. Die dafür verantwortlichen Gene der DNA werden von der Ribonukleinsäure, der RNA kopiert und dann zur Produktion der Proteine genutzt. So unterschiedlich die Proteine sind, so unterschiedlich ist ihr Aufbau, ihre Funktion und ihre Lebenszeit. Ohne sie gibt es keine neuen Körperzellen, von der Gehirnzelle über die Herzmuskeln bis zur Leber. Die Fehleranfälligkeit der Zellen In elf Kapiteln erläutert Ramakrishnan, wie die Zellen entstehen und wie sie sterben, denn fast alle Zellen im Körper haben eine kurze Lebenszeit, müssen sich beständig vermehren und dabei geschehen Fehler. Normalerweise werden diese alle eliminiert. Doch die Reparaturmechanismen sind nicht perfekt. So sammeln sich im Laufe der Zeit immer mehr beschädigte Zellen an. Reaktion des Körpers: 1. Die fehlerbelastete Zelle dazu zu bringen, sich selbst zu zerstören, quasi Selbstmord zu begehen. 2. Die Zelle stillzulegen, so dass sie keinerlei Funktion mehr ausübt und sich nicht mehr vervielfältigen kann. 3. Sie zu reparieren, also alle Fehler zu beseitigen. Quelle: Venki Ramakrishnan – Warum wir sterben Je mehr Zellen stillgelegt werden, desto schlechter arbeitet das entsprechende Organ, in dem sie sich befinden. Je weniger repariert wird, desto heftiger werden die Funktionen einzelner Organe beeinträchtigt. Das ist der unvermeidbare Alterungsprozess der Organe. Wenn die stillgelegten oder zerstörten Zellen die Überhand gewinnen, stirbt man. Man hofft, mit besserem Verständnis der Reparaturmechanismen die Fehler eindämmen oder sogar beseitigen zu können. Das könnte tatsächlich zu einer Verlängerung des Alters führen. Mehr als 120 Jahre aber sind kaum zu erreichen. Die Unvermeidbarkeit des Alterns Es ist eine fremde Welt, in die man eintaucht. Sie zeigt uns zudem, dass das Altern ein natürlicher und beabsichtigter Vorgang der Evolution ist. Auch wenn sich das Alter heute dank zahlreicher medizinischer und pharmazeutischer Entdeckungen gegenüber früheren Zeiten gut verdoppelt hat, steckt der Prozess des Alterns aber noch immer voller Geheimnisse. Ramakrishnan beweist überzeugend, dass er sich kaum unendlich verlängern lassen wird. Einen Methusalem wird es nicht geben.…
„Geh Weg“, so wollte der Stuttgarter Journalist Joe Bauer die jüngste Sammlung seiner Kolumnen eigentlich nennen. Glücklicherweise war sein Verleger dagegen. Zwar wäre in „Geh Weg“ die peripatetische Grundeinstellung dieser, wie der Untertitel lautet, „Beobachtungen eines Stadtspaziergängers“ fein angeklungen, zugleich aber die grimmige Abwehrformel „Geh weg!“ kaum überhörbar gewesen. Nun heißt das Buch mit seinen gut 50 Texten „Einstein am Stuttgartstrand“. Mit vollem Recht, denn was Albert Einstein mit Stuttgart beziehungsweise dem eingemeindeten Cannstatt zu tun hat, wird hier ebenso enthüllt wie die Bedeutung von Phil Glass, dem Komponisten des Minimal-Music-Meilensteins „Einstein on the Beach“, für das hiesige Opernhaus. Veteran im mentalen Mäandertal Auf Joe Bauers Laptop, mit dem er sich am Neckarufer oder in einer Kettenbäckerei mit freiem Blick auf die dysfunktionalen Reste des Stuttgarter Hauptbahnhofs niederlässt, kommt alles zusammen, mal auf kürzestem Weg, mal mit überraschenden Umschweifen. Auf denen kann dann noch ganz viel anderes aufgelesen und in Erinnerung gerufen werden, aus den historischen Tiefen des Stadtraumes wie aus einem mittlerweile 70-jährigen Leben. Als Bauer vor einem Vierteljahrhundert erstmals zu seinen Stadtspaziergängen aufbrach, ging es ihm darum, ganz in guter Lokalkolumnisten-Manier auf die beim automobilen Durchrauschen übersehenen Details der „Großstadt zwischen Wald und Reben, zwischen Hängen und Würgen“ aufmerksam zu machen. Jedoch: Als Veteran im mentalen Mäandertal gehe ich heute mehr herum als früher, ohne allerdings noch einmal auf die Idee zu kommen, meine Abwege weiterzuempfehlen. Quelle: Joe Bauer – Einstein am Stuttgartstrand Eine gewisse Melancholie macht sich in dieser an vielen Großen geschulten Formulierungskunst bemerkbar, und das hat Gründe, nicht nur, weil mehrere der hier versammelten Texte Nachrufe oder Grabreden auf Weggefährten sind. Seit 26 Jahren schreibt Joe Bauer seine Kolumnen, unterwegs in den Dreckecken wie den Glanzbildchen der Landeshauptstadt ist er als Journalist schon fast doppelt so lang. In dieser Zeit hat sich das ehedem behäbig-bürgerliche und vorbildlich integrationsbereite Stuttgart stark verändert. Zuletzt nicht zum Guten. Eher Kundschafter als Müßiggänger Die Immobilienspekulation zerstört den öffentlichen Raum, die Pandemiezeit hat ihre Spuren hinterlassen mit der leider von hier ausgehenden Querdenkerei, die Lagerbildung seit Putins Überfalls auf die Ukraine beschäftigt auch den Kolumnisten, der sich im wirklichen Leben seit langem gegen Rechtsextremismus engagiert. Kommt hinzu, dass dem naturgemäß randständigen Typus des „Flaneurs“, auch wenn Bauer ihn eher als „Kundschafter“ denn als privilegierten Müßiggänger definiert, traditionell keine überschäumende Lebensfreude eignet: So wunderte ich mich schon als junger Kerl, dass ich überhaupt noch geboren werden konnte. Dieses an sich schon absurde Ereignis brachte mich dazu, ein Leben als Pessimist zu führen. Nur auf diese Art konnte ich zusehen, wie die Stuttgarter Kickers bis in die fünfte Liga abstürzten. Ich habe ihnen das nie krumm genommen, weil sich für einen Pessimisten ‘Oberliga‘ immer noch verdammt glamourös anhört. Wenn du in einer Stadt lebst, in der sie auf dem Marktplatz einen metallenen Foodtruck mit Blumentrögen einzäunen und ,the ratskellerbar‘ nennen, spielst du ohnehin bar jeder Klasse in der Kreisliga. Quelle: Joe Bauer – Einstein am Stuttgartstrand Bauers Spottlust ist offenkundig ungebrochen, allen alters- und gesamtsituationsbedingten Verfinsterungen zum Trotz. Auch wenn sie es nicht immer leicht zu haben scheint, sich durchzusetzen. Das liegt nicht nur am erwähnten Pessimismus. Joe Bauer will es nicht dabei belassen, glossierende Bemerkungen über Honoratioren-Ignoranz oder zweifelhaftes Stadt-Marketing, um es mit einem Modewort zu sagen, „abzuliefern“. Gerade in der Frage von Krieg und Frieden ringt er offen um Haltung, wehrt sich gegen die Schublade des „Lumpenpazifismus“, liest Clausewitz, sucht Argumente. An denen kann man sich reiben. In unseren Tagen der oft wohlfeilen Eindeutigkeiten ist das schon viel.…
Der Mensch führt Krieg, immer wieder und weiter, und das trotz der ganz großen Schrecken des vergangenen Jahrhunderts. Dabei muss er gar nicht. Weder seine genetische Veranlagung noch das schlechte Beispiel des Brudermords von Kain an Abel zwingen ihn dazu. Das stellen Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik gleich am Anfang ihres Buches „Die Evolution der Gewalt“ klar. Darin gehen sie entlang der Menschheitsgeschichte der Frage nach: „Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen“. Und von vornherein machen sie deutlich, dass sie die verbreitete Ansicht, der Mensch sei eben von Natur aus ein kriegerisches Wesen, mit aller Entschiedenheit widerlegen wollen. Kriegerische Schimpansen, friedfertige Urmenschen Zu diesem Zweck stützen sie sich zunächst auf die Erkenntnisse der Evolutionären Anthropologie und Primatologie. Woraus sich für unsere nächsten Vorfahren allerdings ein eher bedenkliches Bild ergibt: Die Schimpansen leben im permanenten Zustand eines latenten Krieges. Zwischen Schimpansen-Gemeinschaften gibt es keinen Frieden. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Trotzdem bleiben die Autoren zuversichtlich, denn die Archäologie liefert günstigere Indizien für ihre Kernthese, dass der Krieg kein Menschenschicksal sei. Zwar weisen Schädel, Skelette und Knochen aus urgeschichtlichen Grabstellen oft zahlreiche Spuren von Gewalttaten auf, aber von regelrechten Kriegen kann da noch keine Rede sein. Wandernde Wildbeutergruppen setzten eher auf Kooperation und wenn größere Konflikte hochzukochen drohten, konnte man sich in den dünn besiedelten Landschaften der Steinzeit leicht aus dem Wege gehen. Kriegskunst als Erwerbskunst Das änderte sich dann mit Landwirtschaft, Sesshaftigkeit, Staatenbildung und der Inthronisation von Herrschern, die ihren Ruhm und Reichtum mehren wollten. Der griechische Philosoph Aristoteles brachte es so auf den Punkt: Darum ist auch die Kriegskunst von Natur aus eine Art Erwerbskunst, die man anwenden muss gegen Tiere und gegen Menschen, die von Natur aus zum Sklavendienst bestimmt sind. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Krieg als Zivilisationsprodukt Hier kommen nun nach der Anthropologie und der Archäologie die Geschichts- und Religionswissenschaften zur Geltung. Sie erklären die Rolle von Herrschern, Göttern und Staatsdenkern bei der offenbar unaufhaltsamen Herausbildung der „Kriegsmatrix“, wie die Autoren das nennen. Zugleich betonen sie jedoch: Es ist eben nicht der Krieg aller Menschen. Es ist der Krieg von Staaten: Herrscher ziehen in den Krieg, Untertanen werden in den Krieg gezwungen. Der total gewordene Krieg ist ein Zivilisationsprodukt. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Als Evolutionsgeschichte der Gewalt ist das Buch, ungeachtet kleinerer Unstimmigkeiten, informativ, lehrreich und spannend zu lesen. Weniger gut steht es um die schöne These von der ursprünglichen Friedfertigkeit der steinzeitlichen Menschen, auch wenn die Autoren mehrfach darauf verweisen, dass die Menschheit während 99 Prozent ihres Erdenwandels ohne Kriege ausgekommen sei. Der Vorschlag, daraus Folgerungen für heute abzuleiten, muss angesichts einer fünftausendjährigen Geschichte von kriegsgeprägten Zivilisationen als ziemlich unhistorisch erscheinen. Trotzdem kann der politische Rat, den die Autoren zum Schluss geben, im Sinne von Aufklärung und Menschlichkeit nützlich sein. Der Krieg, so sagen sie, ist weder naturgegeben noch gottgewollt, sondern meist von einseitigen Interessen geleitet. Und darum sei es wichtig, denen genau auf die Finger zu sehen, die ihn führen wollen.…
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1 SWR Bestenliste Februar mit Büchern von Samantha Harvey, Julia Schoch, Jonas Lüscher und Wolf Haas 1:09:57
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Über den Wolken und durch die Jahrhunderte: Meike Feßmann, Julia Schröder und Paul Jandl diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Februar verzeichnete Werke, die von berauschenden und bedrückenden Reisen handeln. Zunächst ging es um den mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Umlaufbahnen“ von Samantha Harvey in der deutschen Fassung von Julia Wolf, in dem sechs Astronauten auf einer Raumstation durchs Weltall schweben und ihr Verhältnis zur bedrohten Mutter Erde neu justieren (Platz 4). Besprochen wurde in der ausverkauften Mediathek in Bühl Julia Schochs Abschluss ihrer Trilogie, die mit „Biographie einer Frau“ überschrieben ist und auf Platz 3 der Februar-Bestenliste steht: Nach „Das Vorkommnis“ und „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ heißt der dritte Teil der autofiktionalen Romanreihe „Wild nach einem wilden Traum“, in welchem es um die Erinnerung an eine Affäre und die Entscheidung der Erzählerin geht, Schriftstellerin zu werden. Auf Platz 2 wird auf der Bestenliste im Februar der neue und vieldiskutierte Roman von Jonas Lüscher gelistet: „Verzauberte Vorbestimmung“ heißt das Werk, das einerseits ein Post-Covid-Roman ist und andererseits das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine in unterschiedlichsten Epochen reflektiert. Der Spitzenreiter der Bestenliste im Februar ist der neue Roman „Wackelkontakt“ von Wolf Haas. Darin wird zunächst von einem Trauerredner namens Franz Escher erzählt, der auf einen Elektriker wartet und einen Roman über einen Mafioso liest. Schon bald geht es aber auch um einen Mann im Zeugenschutzprogramm, der sich die Zeit mit einem Buch vertreibt, in dem wiederum der Trauerredner Escher auf den Elektriker wartet. Der Text ist ein Prosa-Labyrinth, das an die unmöglichen und unendlichen Gemälde des niederländischen Grafikers M.C. Escher erinnert. Jury und Publikum waren gleichermaßen amüsiert. Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.…
Der Schweizer Lüscher bringt unterschiedliche Lebensgeschichten und Schicksalserfahrungen zusammen, die verbunden sind durch das unsichtbare Band zwischen Mensch, Technik und Kapitalismus. Lüscher greift auf eine sehr persönliche Erfahrung zurück.
Ein Mann sitzt in seiner Wohnung und wartet auf den Elektriker. Währenddessen liest er ein Buch. Darin sitzt ein Mann in seiner Zelle und liest ein Buch über einen Mann, der auf den Elektriker wartet. Wolf Haas. Sie wissen schon.
Der Abschluss der Romantrilogie „Biographie einer Frau“. Während eines USA-Stipendiums verliebt die Erzählerin sich in einen Mitstipendiaten. Julia Schoch macht daraus eine große Reflexion über Herkunft, Prägung und Schreiben.
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1 Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so | Buchkritik 4:09
Was für ein Leben. Emilie Rouanet kommt am 14. November 1824 im brandenburgischen Beeskow nach einer leidenschaftlichen Affäre ihrer Mutter als deren sechstes Kind zur Welt. Sie wird zu einem Onkel, später zur Adoption freigegeben. Vierzehn trostlose Jahre vergehen, bis der Stiefvater in Berlin 1838 Berta Kinne heiratet, die dem Mädchen verständnisvoll zugewandt ist und ihr liebevoll die Mutter ersetzt, ein Leben lang. Erste Begegnung Emilies mit Theodor Fontane in Berlin Im Haus nebenan wohnt der junge Theodor Fontane bei Onkel und Tante. Das erste Mal begegnen sie sich, als Emilie elf, Theodor 15 ist. Ernst aber wird es erst neun Jahre später, als sie sich wiedersehen. Die Verlobung folgt bald, heiraten aber können sie erst 1850, als Fontane endlich ein festes, wenn auch geringes Einkommen hat. Emilie schenkt sieben Kindern das Leben, drei sterben schnell, Sohn George mit 36 an einer Blinddarmentzündung. Vierundfünfzig herzlich zugewandte Jahre lebt und arbeitet die Frau an der Seite Theodor Fontanes. Gotthard Erler, inzwischen 91, der seit vielen Jahrzehnten Leben und Werk des Dichters ergründet und ediert, ist fasziniert von Emilie. Ein Leben als Dichterfrau in ärmlichen Verhältnissen Aus so miesen Verhältnissen stammend wird sie die Frau eines Dichters, der kein Geld verdient, sie hat eine Schwangerschaft nach der anderen, sie haben nie Geld, nur, was er erschreibt, kann man verbrauchen, und sie hat wirklich ein schweres Leben gehabt. Das hat mich fasziniert, dass sie daraus was gemacht hat, mit einer tiefen Zuneigung zu diesem Theodor Fontane verbunden gewesen ist und bei alledem immer wieder die Feder in die Hand genommen hat und immer wieder etwas aufgeschrieben hat. Quelle: Gotthard Erler Hauptsächlich sind es Briefe. 3 bis 4000, schätzt Gotthard Erler. Die meisten davon sind unbekannt, 500 aber hat er gelesen, einige davon bereits im Ehebriefwechsel veröffentlicht und nun 150 ausgewählt und zusammen mit Christine Hehle herausgegeben: Eine Offenbarung. Lernt doch der Leser dieser Briefe eine wahrlich beeindruckende Frau kennen. Sie schreibt sechs Jahrzehnte lang Stiefmutter, Mann und Kindern, Freunden und Bekannten und berichtet über ihr Leben in Berlin oder London, über Sommeraufenthalte in Schlesien oder Reisen nach Karlsbad oder Kissingen. Immer sitzt zwischen ihren couragierten, wohlformulierten Zeilen auch Sorge über die stets prekären Verhältnisse der Familie. Besonders der innig geliebten Stiefmutter Berta vertraut sie ihre Not an, wie am 19. April 1860. Alles trägt sich doch leichter meine Herzensmama, als beständige Nahrungssorgen, zu denen ich bestimmt zu sein scheine; oft wird es mir recht schwer dieselben zu ertragen. Quelle: Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so Geldnöte haben die Fontanes immer – selbst in der wohl produktivsten Phase des Dichters zwischen dessen sechzigstem und siebzigstem Lebensjahr, in der er an „Effi Briest“ oder „Der Stechlin“ arbeitet. Aber nicht nur er allein ist so fleißig. Kopistin und Gesprächspartnerin: eine Frau auf Augenhöhe für den Dichter Sie sei nur noch „Abschreibe-Maschine“, berichtet Emilie einmal ihrem Sohn Theodor. Denn praktisch alles, was Fontane zu Papier bringt, geht sprichwörtlich durch ihre Hände. Nicht nur jetzt, sondern ein ganzes Dichterleben lang. Gut vierzig Bände, tausende dicht beschriebene Blätter voller Korrekturen und Bemerkungen überträgt sie mit kratzenden Federn und schlechter Tinte am Küchentisch unter einer Lichtfunzel. Und greift auch mal inhaltlich ein, wie beim Roman „Graf Petöfy“, zu dem sie am 14.Juni 1883 im Brief an ihren Mann über Figuren und Handlung Stellung nimmt. F. u. E. können doch nicht gleich in Liebe verfallen? Er wirkt außerdem schemenhaft, man würde nicht begreifen, dass er kam, sah u. siegte. Der Schluss des Kapitel’s, wo er seine Stellung zu ihr in Erwägung zieht [ist] doch fast zu zurecht gemacht u. grußlich. Quelle: Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so Emilie Fontane war, so legt es diese wunderbare Autobiografie in Briefen nahe, eine Partnerin auf Augenhöhe, eine Frau, die zaghaft lektorierte, frisch und frei berichtete, couragiert austeilte, bildhaft reportierte. Die Ehe- und Dichterfrau war Kopistin und Vorleserin, Gesprächspartnerin, Mutter und Netzwerkerin: rundum potent und patent. Mir fiel irgendwann mal ein, ob sie nicht in gewisser Weise dem Frauenbild vom alten Dubslav von Stechlin entspricht: „Eine Dame und ein Frauenzimmer, so müssen Weiber sein.“ Das ist Emilie! Quelle: Gotthard Erler…
Ein schrecklicher Skandal droht: Eine menschliche Rippe wird in einer Skulptur der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman entdeckt. Ist es möglicherweise ein Knochen ihres verschwundenen untreuen Ehemannes, dessen Leiche nie gefunden wurde? Kurator James Becker ist sich sicher: Das kann nicht sein. Deshalb reist er auf die verlassene Insel Eris an der schottischen Küste, auf der Vanessa einst gelebt hat. Dort wohnt die einzige Frau, die die Wahrheit kennt: Vanessas Nachlassverwalterin und enge Freundin Grace Haswell. Die fiktive sturmumtoste Insel Eris ist der Haupthandlungsort von „Die blaue Stunde“, dem neuen Roman der Beststeller-Autorin Paula Hawkins. Der Titel bezieht sich auf die Zeit der Dämmerung. Wem ist hier zu trauen? Das Licht wird schwächer, Schatten sammeln und verdichten sich. Marguerite kennt dafür eine besondere Redewendung: l’heure entre chien et loup, die Stunde zwischen Hund und Wolf. Es ist die Zeit, in der die Dinge anders erscheinen können als sie sind, in der etwas Gutes bedrohlich wirken oder ein Feind in der Gestalt eines Freundes daherkommen kann. Quelle: Paula Hawkins – Die blaue Stunde Etwas, das harmlos sein kann, entpuppt sich als gefährlich – oder etwas Gefährliches ist doch ganz harmlos. Das beschreibt das angestrebte Erzählverfahren: Die beiden personalen Erzählstimmen gehören zu James und Grace. Beide sind verdächtig, verschweigen Dinge, wissen nicht, wem und ob sie einander vertrauen können. Dazu kommen E-Mails, Zeitungsausschnitte und Tagebucheinträge von Vanessa. Ihr künstlerisches Ringen, ihr Kampf um Beachtung, die Frauenverachtung in der Kunstwelt der 1990er Jahre wird so anschaulich gemacht. In ihren Tagebüchern schreibt sie andauernd über Freiheit; auch in Interviews kommt sie häufig darauf zu sprechen. Ihre Freiheit scheint ihr über alles gegangen zu sein, sogar über Liebe, Freundschaft oder nette Gesellschaft. Becker fragt sich, wie weit sie wohl gegangen wäre, um wirkliche Freiheit zu erlangen. Quelle: Paula Hawkins – Die blaue Stunde Ein Künstlerinnenroman – mit einer Toten im Mittelpunkt Noch nach ihrem Tod – sie starb an Krebs – steht Vanessa im Mittelpunkt: Zu Lebzeiten wollten die Menschen um sie herum Beachtung, Geld, Liebe oder Sex. Posthum ringen insbesondere James und Grace um die Deutungshoheit über sie und ihr Werk. Er will sich als Vanessa-Chapman-Experte etablieren. Und Grace hält ein Teil des Vermächtnisses zurück. Sie will Vanessa nicht loslassen und kontrollieren, was öffentlich wird. Insbesondere in den ersten zwei Dritteln des Romans zeigt sich Paula Hawkins‘ erzählerische Stärke: Mit jeder neuen Information verändert sich das Bild von dem Geschehen und den Figuren. Vor allem die rätselhafte Beziehung zwischen Vanessa und Grace treibt die Spannung voran. Doch obwohl am Ende einiges offen bleibt, erklärt die Autorin letztlich zu viel. Moralisch nicht einwandfrei handelnde Frauen Schon in „Girl on the train“ hat Paula Hawkins über widersprüchliche Frauen geschrieben. Das begründete damals teilweise den Erfolg des Buchs – zusammen mit ihrer US-Kollegin Gillian Flynn entfachte sie einen neuen Boom psychologischer Spannungsliteratur. Seither hat nicht nur Hawkins wiederholt darauf hingewiesen, dass bereits vor ihr insbesondere Autorinnen über komplexe, möglicherweise verbrecherische Frauen geschrieben haben. In „Die blaue Stunde“ referenziert sie nun mehrfach Daphne Du Maurier. Die Geschichte eines betrügerischen Ehepartners, der verschwand und möglicherweise im Meer ertrunken ist, erinnert, wie auch die einsame Lage des Hauses, an „Rebecca“. Dieser Roman sowie weitere Kurzgeschichten Du Mauriers werden sogar namentlich genannt. Diese Verweise dokumentieren aber auch die größte Schwäche dieses unterhaltsamen, gut zu lesenden Romans: Wer beispielsweise Du Maurier gelesen hat, weiß von Anfang an, wem hier am wenigsten zu trauen ist. Bei aller psychologischen Komplexität insbesondere ihrer weiblichen Figuren geht Paula Hawkins nicht dorthin, wo zu den üblichen Verletzungen und Demütigungen noch etwas hinzukommen könnte. Etwas, das man noch nicht vielfach gelesen hätte. Und so verpasst der solide Spannungsroman die Gelegenheit, der großen jahrhundertelangen Erzählung von zwielichtigen Frauen etwas hinzuzufügen.…
Bettina Stangneth hat ein Buch über das Lesen und die Welt der Bücher geschrieben. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe. Zum Beispiel habe ich nicht herausfinden können, warum und vor allem für wen die Hamburger Philosophin ihren Buchessay eigentlich geschrieben hat. Aber so viel immerhin ist mir durch die Lektüre klargeworden, ein Grund zur Scham ist mein Versagen vor diesem Text nicht: Denn in Sachen Bücher sind wir laut Bettina Stangneth allesamt Dilettanten. Die Vorstellung, das Werk eines Autors „richtig“ zu verstehen, sei eher ein Phantasma aus dem Deutschunterricht, und was immer wir beim Lesen aus einem Buch machen, sei uns überlassen. Und zwar auch und gerade, wenn es um „Club der Dilettanten“ geht, wie Bettina Stangneth ihr neues Buch betitelt. Dieses Buch wurde als philosophisches Buch über das Buch geschrieben. Aber was es wirklich ist und noch alles werden kann, liegt nie im Ermessen der Verfasser. Es liegt ganz bei Ihnen, dem Leser. Quelle: Bettina Stangneth – Club der Dilettanten Lesen als Wiederbelebung Warum das so ist, warum alle Macht über die Bedeutung eines Buchs letztlich bei den Leserinnen und Lesern liegt, darüber entwickelt Bettina Stangneth mit Hilfe verschiedener Metaphern eine Art Theorie schriftlicher Kommunikation. Demnach gießt, wer schreibt, seine Gedanken in Schriftzeichen, ein Vorgang, der zwangsläufig mit Welt- und Komplexitätsverlust einhergeht. Etwas makaber vergleicht Stangneth einen Text mit einem „Skelett“ – das während der Lektüre wieder zurück zum Leben erweckt werde. Mit der Pointe freilich, dass das, was nach dem Lesen – hoffentlich – wieder atmet, ein anderes Lebewesen ist als das, welches vom Verfasser zu Grabe getragen wurde. Schließlich hat jeder seine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen, mit denen er das Text-Skelett wieder ausstattet. Damit der Vorgang nicht ganz aus dem Ruder läuft, gibt es immerhin so etwas wie eine anthropologische Brücke, nämlich unser gemeinsames Mensch- und In-der-Welt-Sein. Eine Brücke, die uns, wenn es sein muss, auch zuverlässig über die Jahrhunderte hinwegträgt, weiß Bettina Stangneth – auch wenn Romane aus früheren Epochen für uns heute meist nur noch von historischem Interesse seien, während noch so alte Sachtexte unvermutetes Licht auf aktuelle Probleme werfen können. Kann man ein Buch überhaupt falsch verstehen? Letzteres mag im Einzelfall so sein, ist aber doch wohl kaum verallgemeinerbar. Überhaupt werfen Stangneths ambitionierte Reflexionen über das Schreiben und Bücherlesen so einige Fragen auf: Wenn es kein richtiges Textverstehen gibt, gibt es also folglich auch kein falsches? Warum bezeichnet die Autorin das Lesen dann an anderer Stelle als „Rekonstruktionsprozess“ oder bezeichnet das Schreiben als Fotografieren von Gedanken? Und was, wenn, um das Bild der Autorin aufzugreifen, am Ende nur ein Zombie aus dem Grab steigt – man also anders gesagt beim Lesen nur Bahnhof versteht? Das ist kein Grund zur Besorgnis. Jeder erlebt das früher oder später. Aber Sie können ziemlich sicher sein, dass es mit den Seiten leichter wird, wenn Sie sich bewusst machen, dass es immer der Leser ist, der das Ding in Ihren Händen überhaupt zum Buch macht. Quelle: Bettina Stangneth – Club der Dilettanten Machen wir uns also unseren eigenen Reim auf das Ganze: Ähnlich wie Kant einst seine Zeitgenossen ermutigte, sich ihres Verstandes zu bedienen, geht es der ausgewiesenen Kant-Expertin Bettina Stangneth darum, ihre Leserschaft zu bestärken, keine Angst vor anspruchsvollen Büchern zu haben. Und sich von keinen Deutschlehrern oder Tugendwächtern vorschreiben zu lassen, was sie zu lesen hätten und was besser nicht. Am besten, so der Ratschlag der Autorin, man liest einen Text einfach so, als hätte man ihn selbst geschrieben und schaut dann, ob etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Ein Rat, der, fürchte ich, zumindest bei einem Text von Kant rasch an seine Grenzen stoßen dürfte. Davon abgesehen stellt sich die Frage: Wer so anspruchsvolle Bücher liest wie jenes der Hamburger Philosophin – braucht der wirklich noch Ratschläge oder Ermutigungen, wie man die Welt der Bücher für sich entdeckt?…
Otto Küsel, ein sogenannter „Berufsverbrecher“, kam als Häftling Nr. 2 nach Auschwitz, um als Kapo andere KZ-Insassen zu beaufsichtigen und zu drangsalieren. Der Mann, der für die Einteilung von sogenannten Arbeitskommandos zuständig war, aber tat das Gegenteil dessen, was von ihm erwartet wurde. Der Berliner Autor Sebastian Christ macht das in seiner Biografie, die Küsel als unbekannten Helden porträtiert und die mit ihrem Protagonisten per Du ist, überzeugend deutlich: „In Auschwitz kümmerte er sich zunächst vor allem darum, dass Häftlinge ein Arbeitskommando bekamen, das ihren Kräften entsprach. Er sorgte dafür, dass vermutlich hunderte Polen nicht von der SS durch Arbeit vernichtet werden konnten." Privilegierte Häftlinge Die ersten 30 Kapos von Auschwitz waren fast ausschließlich sogenannte „Berufsverbrecher“, Menschen also, denen die Nazis attestierten, dass sie aus Gewinnsucht immer wieder Verbrechen begehen würden. Als Funktionshäftlinge, die gegenüber der Mehrzahl der anderen Insassen privilegiert waren, schienen sie geradezu prädestiniert dafür, das KZ-System aufrecht zu erhalten. Die ihnen zugedachte Aufgabe war es, einen Teil der Arbeit der SS-Wachmannschaften zu übernehmen und ihre weit unter ihnen stehenden Schicksalsgenossen zu terrorisieren. Viele Kapos taten dies mit brutaler Energie und sadistischem Einfallsreichtum. Otto Küsel verhielt sich anders. Aber warum? „Er hat in Ausschwitz menschliche Ideale gelebt. Und das ist tatsächlich etwas, was mich sehr fasziniert hat an seiner Geschichte. Trotz der Möglichkeit, die er hatte. Ich meine, wer als Kapo eingeteilt wurde, der hat vom System eine Chance bekommen", so Sebastian Christ. „Der gute Kapo“ Dieses Erstaunen teilt der Leser mit dem Autor. Otto Küsels Geschichte ist so beeindruckend, weil sie so außergewöhnlich und so unwahrscheinlich ist. Der Mann aus einfachen Verhältnissen, der schon 1937 ins KZ Sachsenhausen gesperrt und im Mai 1940 nach Auschwitz gebracht wurde, ist die Ausnahme von der Regel. Während andere Kapos zuweilen noch mehr gefürchtet wurden als die SS, war Küsel als „der gute Kapo“ bekannt. „Ob jemand ein Kapo war oder ob er eine andere Hilfestellung hatte oder ob er ein einfacher Häftling war, das ist alles dieses Prinzip „Teile und herrsche“ – die Leute sollten gegeneinander aufgebracht werden. Und er hat da einfach nicht mitgemacht", meint Christ. Sebastian Christ ist mehr als zwei Jahrzehnte lang den Spuren von Otto Küsel gefolgt. Er hat seine frühen Jahre als Hausierer und Bettler in den Blick genommen und Küsels Konflikte mit dem Gesetz noch während der Jahre der Weimarer Republik. „Die meiste Zeit zwischen 1929 und 1935 hat er wohl im Gefängnis verbracht“, schreibt Christ, der seine Biografie streng chronologisch aufgebaut hat. Er rekapituliert Küsels Zeit in verschiedenen Lagern und schildert die Flucht aus Auschwitz. Christ berichtet von den Monaten im Untergrund in Warschau, von der abermaligen Verhaftung und von der Rückkehr nach Auschwitz – nunmehr als „normaler“ Häftling: „Otto war der allererste Häftling meines Wissens, der nach Auschwitz zurückgekommen ist, der als der frühere Häftling erkannt wurde und der das dann überlebt hat. Dazu haben sehr viele spezielle Umstände beigetragen, aber in jedem einzelnen Moment muss er natürlich befürchtet haben, von der SS umgebracht zu werden." Otto Küsels Zeit als Kapo in Auschwitz vom Mai 1940 bis zu seiner Flucht im Dezember 1942 füllt zwar nur ein Kapitel, aber sie ist der Kern der Biografie. Es sind diese zwei Jahre, die seinen Lebensweg zu einem Besonderen machen. Wie sich sein Protagonist der unerbittlichen Logik der Lagerhierarchie entziehen konnte, das umreißt Sebastian Christ engagiert, lebendig und voller Empathie. Welche Kompromisse Küsel eingehen musste, um sich in einem perfiden System zu behaupten, das Brutalität belohnte und in dem er jederzeit seine Privilegien einbüßen konnte, das bleibt hingegen unterbelichtet.…
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1 Bücher gegen das Vergessen – zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Mit neuen Büchern von Édouard Louis, Michael Köhlmeier, Navid Kermani und Sumit Paul-Choudhry. 54:53
Dieses Mal im lesenwert Magazin Bücher zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz von József Debreczeni, Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller
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1 Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest 5:07
Kennen Sie das? Sie freuen sich wie ein Schneekönig auf Ihre nächste Reise, aber je näher der Aufbruch rückt, desto spürbarer wird ein leises Grummeln irgendwo im Körper. Ausgerechnet Navid Kermani, den die Recherchen für seine Bücher durch die halbe Welt geführt haben, scheint dieses Gefühl zu kennen. Vielleicht nicht von sich selbst, so doch hinreichend, um daraus eine komische Geschichte zu machen. Eine Geschichte für Kinder, die ebenso zum Vorlesen wie zum Mitsprechen einlädt und nicht zuletzt zum gemeinsamen Betrachten der Illustrationen des Zeichners Mehrdad Zaeri. Sie heißt „Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest“. Und das leise Grummeln im Körper sitzt im Fall des Ich-Erzählers ... genau: in der linken Hand. Einmal wollte ich durch Afrika reisen. Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest So beginnt das Buch des vielfach ausgezeichneten Romanciers und Essayisten, der zurzeit mit dem Ostafrika-Sachbuch „In die andere Richtung jetzt“ auf Lesereise ist. Worauf Augen, Ohren, Bauch und Popo sich freuen Der Erzähler freut sich, und alle Körperteile freuen sich mit, die Augen auf den Anblick des Nils, die Ohren auf Jazz in Addis Abeba, der Bauch freut sich aufs Essen, das Herz auf die Menschen, die Kehle auf die Cocktails, die Füße, die Beine, der Mund, der Kopf, auch der Popo, der sich – ausgerechnet – auf Kamelritte freut. „Nur meine linke Hand, die ... Achtung, jetzt beginnt die Geschichte ... die freute sich nicht. ,Ich will nicht nach Afrika!‘ sagte die linke Hand, gerade, als ich zum Flughafen fahren wollte. ,Jetzt komm schon, linke Hand‘ sagte ich. ,Alle wollen nach Afrika, die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, der Bauch, der Kopf, das Herz, der Popo, die Beine, die Kehle, die Füße, sogar die rechte Hand will nach Afrika – warum du denn nicht?‘ ,Zu Hause ist es schöner‘, sagte die linke Hand. ,Papperlapapp‘, rief ich, ,du kommst jetzt gefälligst mit!‘“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Mit „Papperlapapp“ hat noch niemals jemand irgendetwas besser gemacht. So auch hier. Die grummelige Widerspenstigkeit der linken Hand, die sich an der Heizung festhält und partout nicht loslassen will, setzt eine Kaskade der Hindernisse und Scheinlösungen in Gang, inklusive Klempnereinsatz, Problemen im Taxi und am Checkin-Schalter – und jeder Menge Diskussionen von Händen, Mund, Kopf und so weiter. Wenn die Körperteile miteinander streiten Die anderen Körperteile revoltieren regelrecht gegen die aufmüpfige linke Hand, allen voran die rechte Hand, die ihre Chance wittert, sich der unliebsamen Konkurrentin zu entledigen: Ja, schneid sie ab (...) Die linke Hand wird völlig überschätzt. Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Keine gute Idee für einen Linkshänder-Organismus, weshalb ein anderer Ausweg gefunden werden muss. Und selbstredend findet der Erzähler am Ende einen, mit dem alle zufrieden sind und der Reise durch Afrika nichts mehr im Wege steht. Spoiler: dabei spielen zwei kuschelige Handschuhe mit elektronischem Heizkissen im Futter eine wichtige Rolle. Navid Kermanis Text für dieses Bilderbuch zeigt, dass der Autor, selbst zweifacher Vater, ziemlich gut weiß, was Kinder beim Vorlesen begeistert. Litaneiartige Wiederholungen etwa, die man mitsprechen kann: „Ich zog an der linken Hand und ich ZERRTE und ich FLEHTE und ich BETTELTE und ich SCHIMPFTE und ich SCHRIE die linke Hand an, dass wir das Flugzeug verpassen würden, wenn sie nicht sofort die Taxitür losließe.“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Dazu kommt ein leicht anarchischer Witz. So erinnert die Komik der Interaktion zwischen den Körperteilen an den Sketch „Der menschliche Körper“ von Otto Waalkes mit der unsterblichen Zeile „Milz an Großhirn: Soll ich mich auch ballen?“ Bekloppte Ideen für tausend oder zehntausend Euro All das sorgt dafür, dass erwachsene Vorleser sich bei Lektüre ebenfalls nicht langweilen werden, vor allem bei den leise selbstironischen Stellen: „Da hatte mein Kopf wieder eine seiner bekloppten Ideen, und mein Mund bot dem Fahrer an, die Taxitür zu kaufen, wenn der Fahrer sie schnell ausbaute, worauf der Fahrer einen irren Preis nannte, tausend oder zehntausend Euro.“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Für kleine und große Selber-Leser hat das Buch auch optisch viel zu bieten. Der Illustrator Mehrdad Zaeri setzt auf Farbflächen in der Art von Gouachen, mit knalligen Kontrasten, Ton-in-Ton-Silhouetten, filigranen Details, starken Konturen. Die kubistisch-zweidimensional angelegte Figur des Ich-Erzählers mit Zwirbelbärtchen, großen Augen, flachem Kreissäge-Hütchen, rotem Jackett, grüner Hose und gelben Schuhen hat etwas von einem Torero in der Sommerfrische, aber auch vom HB-Männchen der Sechziger-Jahre-Reklame. Auf unterhaltsam-poetische Art erzählen Navid Kermani und Mehrdad Zaeri mit der rasanten Geschichte einer reiseunlustigen linken Hand zugleich von der Vorfreude auf das Neue und dem Magnetismus des Altvertrauten und davon, dass das Ganze erst in der Summe seiner Teile entsteht. Und seien es die verselbstständigten Körperteile, von denen jedes mindestens so wichtig ist wie der Kopf.…
Draußen ist es dunkel, nass und kalt. Die Stimmung ist trüb und die Nachrichten sind voller Schreckensmeldungen. Und doch gibt es viele gute Gründe, heute optimistisch zu sein, findet der Wissenschaftsjournalist Sumit Paul-Choudhury. Optimismus ist eine Ressource, die man anzapfen kann, gerade wenn es hart auf hart kommt, sagt er. „Zum Optimisten wurde ich in der Nacht, als meine Frau starb. Wie schwierig es auch sein mochte, sie wollte, dass ich weiter nach vorne schaute. Ich will beileibe nicht einen Trauerfall empfehlen, um die Resettaste zu drücken, aber mir verschaffte er Gelegenheit und die Motivation, mein Leben von Grund auf zu überdenken." Optimismus steckt in unseren Genen Paul-Choudhury nimmt sich vor, die Welt besser zu machen und findet heraus: Wir alle sind viel optimistischer als wir es von uns denken. Der Optimismus ist sogar in unseren Genen angelegt. Ohne ihn hätte die Spezies Mensch im Laufe der Evolution nicht überlebt. „Optimismus schien mir die einzige Haltung zu sein, die einzunehmen sich lohnte. Wenn man mehr vom Leben erwartete, konnte man auch mehr vom Leben haben. Aber wenn ich schon Optimist sein wollte, dann wollte ich eine Art von Optimismus praktizieren, den ich guten Gewissens vertreten konnte, der mehr war als nur Glaube." Also durchsucht Paul-Choudhury Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie, auch die Literatur und findet erstaunliche Studien sowie beinahe unglaubliche historische Beispiele für die Macht der positiven Zukunftserwartung. Die erzählt er nun anregend in seinem Buch „The Bright Side. Eine optimistische Geschichte der Menschheit“. Solang man am Leben ist, kann man Entscheidungen treffen Da ist zum Beispiel die Legende von Ernest Shackletons Expedition. Der britische Polarforscher rettete mit Beharrlichkeit seine Crew nach 635 Tagen im ewigen Eis der Antarktis. Seine Überlebensstrategie: „Die Eigenschaft, nach der ich am meisten suche, ist vor allem Optimismus angesichts von Rückschlägen und vermeintlichen Misserfolgen. Optimismus ist wahre Zivilcourage." Dabei ging es Shackleton nicht um blindes Vertrauen, er erinnerte seine Männer: solange sie am Leben seien, könnten sie Entscheidungen treffen, ihr Schicksal in die Hand nehmen. So sah es vermutlich auch der Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin. Er antwortete in einem Interview 1963 auf die Frage, wie er die Lage der Nation sehe, nachdem wieder einmal Aufstände schwarzer Amerikaner blutig niedergeschlagen wurden: „Ich kann kein Pessimist sein, weil ich lebe. Ein Pessimist zu sein bedeutet, dass man der Meinung ist, das menschliche Leben sei eine akademische Angelegenheit. Also ich bin gezwungen, Optimist zu sein. Ich bin gezwungen, zu glauben, dass wir überleben können, was auch immer wir überleben müssen.“ Was vom Leben erwarten? Wie die Zukunft gestalten? Die Antworten liegen nicht in der Vernunft, so Paul-Choudhury, sondern in Überzeugungen und Entschlossenheit. Allerdings verändere sich die Welt so rasant, dass die Zukunft immer unvorhersehbarer geworden ist. Seit Beginn der industriellen Revolution haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, dass wir in einer Art von Welt aufwachsen und in einer anderen Art von Welt sterben. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Optimismus hat heute einen schlechten Ruf Da bleibt der Optimismus auf der Strecke. Noch nie scheint er einen so schlechten Ruf gehabt zu haben wie im Moment, beklagen der Autor und sein deutscher Verleger, Lars Claßen, vom Kjona Verlag: „Was ich sehr sympathisch fand, er wollte sich den Optimismus eigentlich austreiben und hat es nur nicht geschafft. Das liegt mir total nah. Ich finde, man darf auch optimistisch aus Notwehr sein.“ Noch so ein Optimist, der Lars Claßen. Veränderung beginne im Kopf, sagt er und gründete einen Verlag mit optimistischer Vision: konsequent nachhaltige Bücher produzieren und nur in Teilzeit arbeiten: „… und der Verlag ist sehr erfolgreich und damit will ich nicht sagen, wow, guck mal, wie toll wir sind, sondern ich will sagen, wenn wir Zwei sowas können, dann können alle anderen das auch.“ Claßen war so begeistert von „The Bright Side“, dass der Verlag das Buch bereits im Sommer 2021 eingekauft hat: „… als es Kjona offiziell noch gar nicht gab, also in der Planungsphase sozusagen, weil wir uns so angesprochen davon gefühlt haben, weil Sumit Paul-Choudhury ein bisschen versucht, den Optimismus vom Kopf auf die Füße zu stellen.“ Der Autor wünscht sich neue Mythen gegen die Optimusmuslücke Stimmt. Was wie ein Lebensratgeber beginnt, entwickelt sich schnell zu einer hoffnungsstiftenden Analyse. Statistisch gesehen gab es noch nie so wenig Gewalt, waren wir nie gesünder, klüger oder älter. Da erstaunt eine aktuelle Umfrage unter Europäern: Die Mehrheit blickt optimistischer in ihre eigene Zukunft als auf die ihres Landes. Zwischen Individuum und Kollektiv klafft eine Optimismuslücke. Und um die zu schließen, wünscht sich Paul-Choudhury neue Mythen. Heute wie damals stirbt eine alte Welt. Unsere Aufgabe ist es, der neuen Welt zur Geburt zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass sie nicht von Monstern zur Welt gebracht wird. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Die Ideen und Technologien für positive Veränderungen sind eigentlich auch schon da: er nennt Geoengineering oder künstliche Intelligenz. Auch die Literatur kann helfen. Die ist meist ein Spiegelbild ihrer Zeit und reagiert auf Ereignisse – auf schlimme mit Dystopien, denkt man nur an Mary Shelleys „Frankenstein“, das sie im Jahr 1816 schrieb, nach dem größten Vulkanausbruch der Geschichte, als sich der Himmel derart verdunkelte, dass es in Europa ein Jahr ohne Sommer gab. Als das Tempo des Wandels jedoch irritierend wurde, widmeten sich die Autoren zunehmend fiktionalen Erzählungen über Reisen in die Zukunft. […] Heute scheint die krasse Dystopie zurück zu sein. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Naive Trottel überall? Nein! Das würde auch Verleger Lars Claßen unterschreiben. Doch immer mehr Autor:innen würden beginnen, neue Gesellschaftsentwürfe zu konzipieren: „Wenn man den Möglichkeitsraum im Kopf erweitert, dann erweitert man auch die Grenzen, die man überhaupt beschreiten kann, deswegen sind Optimist:innen auch resilienter und gesünder und spannenderweise auch überall auf der Welt in jeder Altersstufe.“ Wenn man ein Buch „The Bright Side“ nennt, denkt man natürlich an „Das Leben des Brian“ – der gesungene Optimismus der Gekreuzigten. Alles naive Trottel? Durchaus nicht. Sumit Paul-Choudhurys Version von Optimismus ist eine Lebenseinstellung, eine Tugend. Wenn man so will, hat er ganz im Sinne der Aufklärung einen inspirierenden Langessay vorgelegt, kompetent ins Deutsche übertragen von Andreas Wirthensohn, ganz ohne esoterisches Zuversichtsgeschwafel.…
Édouard Louis, vom Außenseiter-Teenager zum gefeierten Intellektuellen, hat bereits mehrere Bücher über seine aus dem Arbeitermilieu Nordfrankreichs stammende Familie geschrieben. Louis‘ neuestes Buch „Monique bricht aus“ handelt von seiner Mutter und ihrer Befreiung von ihrem gewalttätigen Partner. Es ist bereits das zweite Buch, das der Autor über seine Mutter schrieb. Erneutes Entkommen der Mutter aus gewaltvoller Beziehung Im ersten Band, „Die Freiheit einer Frau“, erzählt Louis darüber, wie seine Mutter nach einigen Jahren das erste Mal von einem gewalttätigen Mann entkommen kann. Der neue Band berichtet nun darüber, wie sie das zweite Mal aus einer gewaltvollen Beziehung ausbricht. Eine stark autobiografische Geschichte über sozialen Aufstieg und Selbstermächtigung.…
Schon 1950 erschien József Debreczenis „Kaltes Krematorium“. 1944 wurde der ungarische Journalist deportiert und hat die alltägliche Hölle der Lager und die von den Nazis erzwungene Entmenschlichung der Gefangenen, präzise beschrieben. Carolin Emcke im Gespräch Die Publizistin Carolin Emcke hat das Nachwort geschrieben und erklärt im Lesenswert Gespräch, was sie an dem Buch so beeindruckt hat. Nach über 70 Jahren endlich auch auf Deutsch erhältlich - besser spät als nie.…
Das sogenannte „Album von Auschwitz“ zeigt die Ankunft von Jüdinnen und Juden aus Ungarn im Vernichtungslager. Die Fotos haben das Bild vom Holocaust entscheidend geprägt. Doch man sollte die Aufnahmen differenziert betrachten, erklärt der Historiker Stefan Hördler im lesenswert Magazin, denn es ist der Blick der Täter auf die Opfer. Stefan Hördler im Interview SWR Kultur: Das sogenannte „Album aus Auschwitz“, das ist keine Neuerscheinung, das Album und die Fotos darin sind der Öffentlichkeit lange bekannt, aber jetzt gibt es diese Neuauflage des Wallstein Verlags. Klären wir doch erst mal die Geschichte dahinter: Was hat es mit diesem „Album aus Auschwitz“ auf sich? Hördler: Das Album hat eine extrem spannende Überlieferungsgeschichte, die wir zum einen natürlich mit der Finderin selbst, Lilly Jacob, eine Überlebende des sogenannten „Ungarn-Programms“, dieser Mordaktion, verbinden und natürlich mit den Fotografen. Vielleicht darf ich mit den beiden SS-Fotografen beginnen, denn das Album ist ja nicht heimlich entstanden und im Verborgenen, sondern dadurch, dass das Fotografieren im Konzentrationslager verboten war, brauchte es natürlich die Erlaubnis und somit auch das Einverständnis von Heinrich Himmler selbst, dem SS-Chef. Es sind zwei Männer, die fotografieren: Bernhard Walter, ein Stuckateur aus Fürth und Ernst Hofmann, ein Lehrer aus Thüringen. Beide Männer fotografieren und Bernhard Walter lässt verschiedene Fassungen anfertigen, nach der Überlieferung etwa 15, die dann an Prominenz wie Heinrich Himmler, Adolf Eichmann, der ja die Deportationen mit organisiert, Rudolf Höß, dem vormaligen Kommandanten von Auschwitz, der extra für diese Mordaktion wieder nach Auschwitz reist und viele andere mehr. Aber eine Kopie behält er privat. Bernhard Walter wird nach der Auflösung von Auschwitz in das KZ Mittelbau versetzt und er nimmt sein Album mit. Mit der Befreiung und dem überhasteten Abzug der SS lässt er es offenbar zurück und das KZ Mittelbau und auch das Hauptlager Dora wird durch die US-Amerikaner befreit. Auch Lilly Jacob, die nach Auschwitz und dann über Groß-Rosen ebenfalls nach Dora deportiert wurde, wird im April 1945 befreit und wird in eine SS-Unterkunft verlegt. Nach ihren eigenen Erinnerungen ist ihr kalt, sie sucht eine Decke, macht einen Schrank auf, findet einen Pyjama und in dem Pyjama findet sie dieses Album, macht dieses Album auf und entdeckt ihren eigenen Transport nach Auschwitz, ihre Großeltern, ihren Rabbi, macht das Album zu und nimmt es mit. Es ist am Ende Serge Klarsfeld, der Lilly Jacob ausfindig macht und sie überredet, das Album an die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zu geben, was 1980 passiert. Damit steht das Album einer breiteren Öffentlichkeit und vor allen Dingen auch der Wissenschaft für die Erforschung zu Verfügung und wir, also Tal Bruttmann, Christoph Kreutzmüller und ich, haben entschieden, dass es Dinge hat, die übersehen wurden. Uns war es wichtig, diesen Täterblick zu dekonstruieren und letztendlich die eigentlichen Bildfolgen zu rekonstruieren und zu erklären, was wir dort sehen. SWR Kultur: Wie haben diese Fotos, diese fast 200 Fotos des Albums, unser Bild vom Holocaust geprägt? Hördler: Das ist eine wichtige Frage, weil natürlich eine gewisse visuelle Vorstellung des Holocaust besteht und diese Fotografien, dadurch dass sie ja reproduziert wurden, über und über reproduziert wurden und oft als Illustrationen gebraucht, sind sie sozusagen zu fast schon „Ikonen“ verkommen. Es sind Fotografien, die nahezu in jedem Schulbuch, in jeder Dokumentation, in jedem Artikel, in jedem Presseartikel zur Geschichte des Holocaust abgebildet sind. Verbunden mit einem empathischen Blick, auf dem Frauen, Kinder und Männer, die für die Gaskammern selektiert werden, aber wir müssen vorsichtig sein, denn das ist der Blick der SS, das heißt, es ist nicht der Blick auf die Opfer durch die Brille der Opfer und es ist damit auch nicht der Blick der Opfer selbst, sondern es ist der Blick der Täter auf die Opfer und wir haben uns die Mühe gemacht, nahezu jeden Standpunkt des Fotografen in Auschwitz mit zu rekonstruieren. Das heißt: Wo genau stand der Fotograf und aus welcher Perspektive hat er fotografiert? Wir können feststellen, dass teilweise direkt aus den Türen der Gaskammern heraus fotografiert wurde, das ist ja die Perspektive der SS, die Perspektive der Überlegenheit. Sie wissen, was jetzt kommt: nämlich der Massenmord. Sie fotografieren die Menschen, die dann als nächstes in diese Gaskammern eintreten werden. Darum dreht sich auch einer der vielen Ansätze des Buches, nämlich genau diese Perspektive zu entschlüsseln und auch die Perspektive zurück mit in den Blick zu nehmen, bis hin zu den verschiedenen Phasen und Kapiteln in diesem Album, die alle eine bestimmt Perspektive auf Menschen haben. Eine sehr stark rassistische Perspektive, die erklärt werden muss. SWR Kultur: Herr Hördler, können Sie vielleicht dafür auch diese neuen Details, die Sie in den Fotos entdeckt habe, die Sie in dem Buch zusammengefasst haben, ein Beispiel für machen, was Ihnen besonders aufgefallen ist? Hördler: Vielleicht ist es ein Umstand, der sofort ins Auge fällt: Dass die SS versucht, diesen Ablauf sozusagen als mustergültigen Ablauf der sogenannten „Abfertigung“ eines Deportationstransportes zu sehen. Das heißt, sie fotografieren in gewissen Kapiteln die Ankunft, die sogenannte Selektion, den Weg in die Gaskammern für die einen Menschen, den Weg in das Lager und in die Registrierung für die anderen, bis hin zu den sogenannten Effekten, das heißt, auch der Raub des Eigentums wird mitfotografiert und dadurch entsteht der Eindruck, als wenn das ein Transport ist, aber letztendlich mixt die SS Dutzende Transporte in diese Inszenierung des Albums über einen längeren Zeitraum. Wir konnten feststellen, dass die ersten Fotos ja am Tag des ersten Transports entstehen und die letzten Fotos im August 1944, also deutlich später, bis hin zum letzten Umstand, dass wir einen SS-Zahnarzt auf der Rampe identifizieren konnten, Schatz heißt dieser Mann, der im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess angeklagt wurde und aus Mangeln an Beweisen freigesprochen wurde, obwohl das Album als Beweismittel im Prozess vorlag und er deutlich auf mehreren Fotos auf der Rampe zu sehen ist bei der Selektion. Das heißt, auch dieser neue Blick zeigt, dass das Thema nicht ausgeforscht ist, sondern, dass wenn wir wirklich genau hinschauen, wir auch erklären und erkennen können, wer genau da steht. Wir können wirklich bis zur einzelnen Person hineinzoomen. Das betrifft auch die Deportieren, auch die Opfer.…
Im August 1939 begibt sich der Autor Witold Gombrowicz auf einem Transatlantikliner auf die Reise nach Buenos Aires. Die Rückfahrkarte, ausgestellt auf den 1. September, lässt er allerdings verfallen. An diesem Tag begann bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Nazideutschlands auf Polen. Gombrowicz bleibt für die nächsten 24 Jahre in Argentinien. Mit dieser autobiographischen Episode beginnt sein dritter Roman „Trans-Atlantik“, 1953 im Original und 1963 auch auf Deutsch erschienen. Der Roman „Ferdydurke“ aus dem Jahr 1938 hatte Gombrowicz bekannt gemacht, ein „Geniestreich“, wie der Übersetzer und Herausgeber Rolf Fieguth schreibt, aber eben kein einmaliger. Denn mit „Trans-Atlantik“, hochliterarisch wie der Vorgänger, habe er seinen Ruhm in der polnischen Literatur endgültig gefestigt. Rolf Fieguth: „Schlüsselroman, skandalisierende Satire, moral-humoristischer Traktat, doch zugleich und vor allem ist es das unbedingtere und auch geschlossenere Sprachkunstwerk, in welchem die artistische Fantasie, der Rausch, der Traum und die Schönheitssehnsucht inmitten aller Ekelhaftigkeit triumphieren.“ Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen Aber wie es mit solch epochemachenden, dem Realismus nicht zugeneigten Werken zuweilen ist: Sie müssen ihren Weg auch zu nachgeborenen Lesern finden. Mit der Wiederveröffentlichung der 37 Jahre alten Hanser-Ausgabe im Kampa Verlag ist ein erster Schritt getan. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass es einem der Text selbst ganz einfach macht, denn was Fieguth als hochliterarisch bezeichnet, deutet schon hin auf den Anspielungsreichtum, die sprachspielerische Lust, das Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen. Die angesprochene moralisch-humoristische Dimension aber lässt sich leicht erkennen. Als der Titelheld, der den Namen des Autors trägt, in seinem Exil in Geldnöte gerät und seine polnischen Landsleute inklusive Minister anpumpt, ist das nicht ohne bitterernsten Witz. Gut gut, hier hast du 70 Pesos, (…).« Ich sehe also, dass er mich mit Geld abspeist; und nicht einfach mit Geld, sondern mit Kleingeld! Nach einer so schweren Beleidigung steigt mir das Blut in den Kopf, ich sage aber nichts. Ich sage erst: »Ich sehe, ich muss dem Hochwohlgeborenen Herrn sehr klein sein, denn Ihr speist mich auch mit Kleingeld ab, und sicher zählt Ihr mich unter die Zehntausend Literaten; aber ich bin nicht nur Literat, sondern auch Gombrowicz! Er fragt: »Was für ein Gombrowicz?« Ich spreche: »Gombrowicz, Gombrowicz.« Er rollt das Auge und spricht: »Wohlan, wenn du Gombrowicz bist, so hast du hier 80 Pesos (…).“ Quelle: Witold Gombrowicz – Trans-Atlantik Schelmische Naivität Das Spiel mit Paradoxien, Übertreibungen, Wiederholungen, Absurditäten und den umgangssprachlichen Plauderton, der diesen Roman prägt, kann man hier schon bemerken. Damit sollen einerseits der Gestus des mündlichen Erzählens, andererseits die primitivistischen Sprachdeformationen der historischen Avantgarden nachvollzogen werden. Auch der Rückgriff auf vormoderne Erzählungen wie den „Simplicissimus“ liegt Gombrowicz nicht fern. Das hat freilich einen höheren Zweck: Mit einer schelmischen, demaskierenden Naivität schlägt sich sein Held nicht nur mit seinen polnischen Landsleuten, sondern auch dem polnischen Nationalstolz herum, der hier satirisch verunstaltet wird. Wie Gombrowicz in einem der zahlreichen Vorworte zu seinem Buch schreibt, stellt er dem gängigen idyllischen Menschenbild sein eigenes gegenüber: Die Welt sei geprägt von Fiktion und Lüge. Von Wahrhaftigkeit keine Spur. Stattdessen sind wir konfrontiert mit der Leere des Menschen – das Wort „leer“ fällt häufig in diesem Roman. Sie steht der Tiefe entgegen, die man dem menschlichen Wesen gerne zubilligen würde. Tragisch und albern ist er stattdessen. Zum bösen Scherz oder heiteren Ernst des Buches gehört dementsprechend sein Schluss: „Da wummt das Lachen!“, heißt es auf der letzten Seite. Mit befreiendem, wummerndem Lachen endet dieser Roman einer Katastrophe, der den Autor Witold Gombrowicz auf die weltliterarische Landkarte gesetzt hat.…
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